Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

74. Fortsetzun­g

So lagen sie nebeneinan­der, spürten die Nähe, die Wärme des anderen. Antonia nahm Thomas’ Hand und schob sie in den Ausschnitt ihres Kittels. Zart und suchend umschlosse­n seine Finger ihre warme Brust.

,,Ich liebe dich“, stammelte er, ,,ich liebe dich so sehr.“

*

Der Morgen dämmerte bereits, als Antonia sich erhob. Nur langsam konnte sie sich aus der Umarmung des schlafende­n Thomas lösen. Während sie in ihre Unterwäsch­e, den Kittel und die Schuhe schlüpfte, erfasste sie Panik. Gleich würde die diensthabe­nde Schwester hereinkomm­en, um den Patienten zu versorgen, und da durfte sie nicht mehr hier sein.

Thomas lag still da, er war ungewöhnli­ch blass, und in dem dämmrigen Licht sah sie, dass sich sein Gesicht verändert hatte. Die Nase trat scharf und schmal aus dem weißen Gesicht hervor, die Augen schienen in ihre Höhlen eingesunke­n.

Einen Moment stand sie vor ihm, dann beugte sie sich über ihn und küsste ihn, zart und flüchtig. Sie konnte sich nicht lösen, wieder strich sie ihm über die Wange, übers Gesicht, über die halbgeöffn­eten Lippen. Sein Atem wurde schwerer, mühsamer, dann aber schien er sich im Schlaf zu beruhigen, er atmete wieder leichter, doch die Blässe seines Gesichts vertiefte sich.

,,Ich komme so schnell wie möglich zurück“, flüsterte sie. Thomas wurde unruhig, aber er lächelte, und Antonia war sich sicher, er hatte sie im Schlaf verstanden.

*

Als sie nach Hause kam, schliefen die anderen noch. Der Geruch nach kaltem Rauch empfing sie, mischte sich mit dem leichten Duft nach Tanne.

Antonia ging in die Küche und machte den Ofen an. Hella lag nicht in ihrem Korb, offenbar hatte Maria den Hund mit in ihr Zimmer genommen.

Während es langsam warm wurde, saß Antonia am Tisch, unfähig, etwas anderes zu denken als an Thomas und ihre erste gemeinsame Nacht. Sie saß lange dort, stand nur gelegentli­ch auf, um mit einem Schürhaken die Platte des Ofens hochzuhebe­n und Holz nachzulege­n. Dann wartete sie, wartete, bis es richtig Tag wurde.

Es war bereits später Vormittag, als Maria als Erste in der Küche erschien, Hella auf ihrem Arm.

,,So herrlich warm bereits“, freute sie sich. ,,Sonst komme ich immer in eine eiskalte Küche.“Antonia nickte ihr nur zu, denn ihre Tante sprach sofort weiter: ,,Anna hat dich gestern bei der Vorstellun­g vermisst“, erklärte sie ihrer

Nichte, ein wenig vorwurfsvo­ll.

,,Es tut mir leid“, antwortete Antonia, ,,es tut mir wirklich leid.“Sie wandte ihr Gesicht ab und sah zum Fenster hinaus, durch das man nichts erkennen konnte, da sich Eisblumen an den Scheiben gebildet hatten. Sie starrte einfach nur ins Leere.

Maria stellte schweigend Teller und Tassen auf den Tisch, fragte ihre Nichte, ob sie von dem selbst gemachten Hagebutten­tee oder doch lieber Ersatzkaff­ee haben wolle, doch Antonia gab keine Antwort, schien sie gar nicht zu hören. Plötzlich aber sprang sie auf.

,,Ich muss zurück“, erklärte sie, und schon hastete sie in den Flur und zog ihren dicken Mantel, Schal und Mütze über.

,,Bitte sag Anna, es täte mir sehr leid.“

Und schon schloss sich die Haustür hinter ihr.

Dann rannte sie los. Ihre Unruhe wuchs, so dass sie nicht anhielt, bevor sie am Krankenhau­s ankam. Keuchend rannte sie in den zweiten Stock und den Gang entlang. Als sie sah, dass die Tür zum Zimmer 205 offen stand, versagten ihre Beine, sie musste sich an der Wand festhalten, während sie sich schließlic­h zwang, Schritt für Schritt weiterzuge­hen.

Das Zimmer war leer, das Bett frisch bezogen. Sie blieb ein fach stehen. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein, sicher war er nur bei irgendeine­r Untersuchu­ng und kam gleich zurück. Sie würde warten, ja, sie würde sich aufs Bett setzen und warten, bis er zurückkam.

Sie hörte Schwester Melanie nicht, erst als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, fuhr sie herum.

,,Es tut mir so leid“, sagte die Schwester, ,,aber er ist vor einer Stunde gestorben. Wir mussten leider das Zimmer gleich für den nächsten Patienten herrichten.“

,,Und ich war nicht da“, flüsterte Antonia, ein trockenes Schluchzen in der Kehle, während sie auf das Bett sank, in dem sie noch vor wenigen Stunden mit ihm gelegen hatte.

Schwester Melanie setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. ,,Vielleicht ist es dir ein Trost, dass er nicht mehr aufgewacht, sondern im Schlaf gestorben ist.“

Es war vorbei. Die Hoffnung, er könne es doch noch schaffen, endgültig erloschen.

,,Ich möchte ihn sehen“, flüsterte Antonia.

Sie fuhr mit dem Aufzug in den Keller hinunter und ging in den Raum, in dem die Toten in langer Reihe aufgebahrt waren, bedeckt mit weißen Tüchern. Eine Krankensch­wester führte sie zu ihm, seine Füße schauten unter dem Leintuch hervor, und am Zeh hing ein Etikett mit seinem Namen. Fortsetzun­g folgt

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