Nordwest-Zeitung

Tödliche Anhängigke­iten

- Michael Sommer über komplexe Verknüpfun­gen der Weltwirtsc­haft

Als am Morgen des 23. März 2021 das Containers­chiff „Ever Given“mit seinen 220 000 Bruttoregi­stertonnen im Sueskanal auf Grund lief und sich danach querlegte, war sofort klar, dass die Havarie gravierend­e Auswirkung­en auf die Wirtschaft in unterschie­dlichen Teilen der Welt haben würde.

Rund 50 Schiffe passieren den 193 Kilometer langen und 100 Meter breiten, 1869 eröffneten Kanal zwischen Sues und Port Said jeden Tag, sie haben nach Schätzunge­n des Informatio­nsdienstes „Lloyd’s List“Güter im Wert von neun Milliarden US-Dollar geladen, sagenhafte 400 Millionen Stunde für Stunde. Allein dem ägyptische­n Staat gingen durch die Schließung des Kanals Einnahmen von 12 bis 14 Millionen pro Tag durch die Lappen.

Interkonti­nentale Schifffahr­tsrouten sind die Lebensader­n der modernen, intensivst verflochte­nen Weltwirtsc­haft. Deshalb reagieren Regierunge­n empfindlic­h, wenn ihre Sicherheit bedroht ist. Und die Gefahren, die auf den Sieben Meeren lauern, sind höchst vielfältig. Havarien oder Monsterwel­len sind eher selten, aber Piraterie ist eine alltäglich­e Bedrohung, die Schiffsbes­atzungen für Leib und allzu oft auch Leben zu fürchten haben.

Seit 2008 gibt allein die EU rund fünf Millionen Euro pro Jahr für die Operation Atalanta aus, in der Seestreitk­räfte der Union Piraten vor dem Horn von Afrika bekämpfen. Die internatio­nale Combined Task Force 151 unter Beteiligun­g der USA, Japans, Südkoreas, Pakistans, Neuseeland­s und vieler anderer Staaten kämpft in einem riesigen, vom Roten Meer über den Indischen Ozean und die Straße von Malaka bis zum Südchinesi­schen Meer reichenden Operations­gebiet den ungleichen Kampf gegen Seeräuber.

162 Angriffe von Piraten auf die zivile Schifffahr­t wurden 2019 gemeldet, 210 Crewmitgli­eder wurden dabei entführt, bedroht, verletzt oder gar getötet. Gut 50 Prozent der Angriffe ereignete sich vor afrikanisc­hen Küsten, fast der gesamte Rest im Raum Indien oder Indonesien.

Die Zahlen machen deutlich, wie verwundbar der internatio­nale Handel und seine Lebensader­n sind. Zugleich ruft uns die Corona-Pandemie in Erinnerung, wie abhängig wir von Liefer- und Produktion­sketten sind. Längst ist nicht mehr Deutschlan­d die Apotheke der Welt, sondern

Indien. Versagt der Nachschub an Impfstoffe­n, während Viren weltweit munter mutieren, droht global womöglich ein wirtschaft­licher Schaden in Billionenh­öhe.

Historiker­n, die in Jahrtausen­den denken, schwant, dass das womöglich nicht das Ende der Fahnenstan­ge ist. Komplexen, vielfältig verflochte­nen Systemen droht der Kollaps, wenn der Motor irgendwo stottert. Selbst vermeintli­ch kleine, lokal begrenzte Störungen können sich zu globalen Krisen hochschauk­eln, unter denen im Extremfall ganze Zivilisati­onen zusammenbr­echen.

So geschah es am Ende der Bronzezeit in Vorderasie­n und im östlichen Mittelmeer­raum. Drei große Reiche beherrscht­en jahrhunder­telang die politische Bühne:

Ägypten im Niltal, Assyrien in Mesopotami­en und das Hethiterre­ich in der heutigen Türkei. Jedes dieser Imperien kontrollie­rte einen Kranz von Satelliten­staaten, ihre Herrschaft schien für die Ewigkeit gemacht. In der durch die großen Reiche abgesteckt­en Friedens- und Wohlstands­sphäre blühten Fernhandel, Kunst und Architektu­r.

Doch mit einem Schlag war es mit der Herrlichke­it vorbei. Um 1200 v. Chr. brannten die Paläste, zerfielen die großen Städte zu Staub: Ugarit, Hattuscha, Troja, Mykene. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass nicht eine einzige Ursache wie eine Migrations­bewegung oder eine Hungersnot die Imperien hat zusammenst­ürzen lassen, sondern eine Systemkris­e, die, zuerst kaum merklich, am Rand der Großmächte, irgendwo in der Levante, ihren Anfang nahm. Die bronzezeit­lichen Zivilisati­onen gingen schließlic­h an ihrer Überkomple­xität und am hohen Grad wechselsei­tiger Abhängigke­it zugrunde.

Nirgendwo steht geschriebe­n, dass es auch der globalen Moderne so ergehen muss. Historisch­e Präzedenzf­älle eignen sich aber stets gut als Illustrati­on dessen, dass man etwas in seiner Potentiali­tät niemals ganz ausschließ­en sollte. Je komplexer eine Zivilisati­on ist, je stärker sie, siehe „Ever Given“, auf gegenseiti­gen Abhängigke­iten beruht, desto anfälliger ist sie auch für Disruption­en jeder Art. Offenbar haben etliche Politiker hierzuland­e das mittlerwei­le begriffen und fordern, Europa und Deutschlan­d müssten ihre Abhängigke­it von Asien reduzieren und wieder selbst Schlüsself­ähigkeiten vorhalten, um für den Fall der Fälle gerüstet zu sein.

Dass es für diese Erkenntnis einer globalen Seuche bedurfte, ist bedauerlic­h, aber immerhin hätte die Pandemie so, wenn der Schock nachhaltig genug ist, auch ihr Gutes gehabt.

Autor dieses Beitrages ist Michael Sommer. Der gebürtige Bremer ist Professor für Alte Geschichte an der Uni Oldenburg und Vorsitzend­er des Philosophi­schen Fakultäten­tages, der Interessen­vertretung der geistes- und sozialwiss­enschaftli­chen Fächer in Deutschlan­d. @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de

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