Tödliche Anhängigkeiten
Als am Morgen des 23. März 2021 das Containerschiff „Ever Given“mit seinen 220 000 Bruttoregistertonnen im Sueskanal auf Grund lief und sich danach querlegte, war sofort klar, dass die Havarie gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaft in unterschiedlichen Teilen der Welt haben würde.
Rund 50 Schiffe passieren den 193 Kilometer langen und 100 Meter breiten, 1869 eröffneten Kanal zwischen Sues und Port Said jeden Tag, sie haben nach Schätzungen des Informationsdienstes „Lloyd’s List“Güter im Wert von neun Milliarden US-Dollar geladen, sagenhafte 400 Millionen Stunde für Stunde. Allein dem ägyptischen Staat gingen durch die Schließung des Kanals Einnahmen von 12 bis 14 Millionen pro Tag durch die Lappen.
Interkontinentale Schifffahrtsrouten sind die Lebensadern der modernen, intensivst verflochtenen Weltwirtschaft. Deshalb reagieren Regierungen empfindlich, wenn ihre Sicherheit bedroht ist. Und die Gefahren, die auf den Sieben Meeren lauern, sind höchst vielfältig. Havarien oder Monsterwellen sind eher selten, aber Piraterie ist eine alltägliche Bedrohung, die Schiffsbesatzungen für Leib und allzu oft auch Leben zu fürchten haben.
Seit 2008 gibt allein die EU rund fünf Millionen Euro pro Jahr für die Operation Atalanta aus, in der Seestreitkräfte der Union Piraten vor dem Horn von Afrika bekämpfen. Die internationale Combined Task Force 151 unter Beteiligung der USA, Japans, Südkoreas, Pakistans, Neuseelands und vieler anderer Staaten kämpft in einem riesigen, vom Roten Meer über den Indischen Ozean und die Straße von Malaka bis zum Südchinesischen Meer reichenden Operationsgebiet den ungleichen Kampf gegen Seeräuber.
162 Angriffe von Piraten auf die zivile Schifffahrt wurden 2019 gemeldet, 210 Crewmitglieder wurden dabei entführt, bedroht, verletzt oder gar getötet. Gut 50 Prozent der Angriffe ereignete sich vor afrikanischen Küsten, fast der gesamte Rest im Raum Indien oder Indonesien.
Die Zahlen machen deutlich, wie verwundbar der internationale Handel und seine Lebensadern sind. Zugleich ruft uns die Corona-Pandemie in Erinnerung, wie abhängig wir von Liefer- und Produktionsketten sind. Längst ist nicht mehr Deutschland die Apotheke der Welt, sondern
Indien. Versagt der Nachschub an Impfstoffen, während Viren weltweit munter mutieren, droht global womöglich ein wirtschaftlicher Schaden in Billionenhöhe.
Historikern, die in Jahrtausenden denken, schwant, dass das womöglich nicht das Ende der Fahnenstange ist. Komplexen, vielfältig verflochtenen Systemen droht der Kollaps, wenn der Motor irgendwo stottert. Selbst vermeintlich kleine, lokal begrenzte Störungen können sich zu globalen Krisen hochschaukeln, unter denen im Extremfall ganze Zivilisationen zusammenbrechen.
So geschah es am Ende der Bronzezeit in Vorderasien und im östlichen Mittelmeerraum. Drei große Reiche beherrschten jahrhundertelang die politische Bühne:
Ägypten im Niltal, Assyrien in Mesopotamien und das Hethiterreich in der heutigen Türkei. Jedes dieser Imperien kontrollierte einen Kranz von Satellitenstaaten, ihre Herrschaft schien für die Ewigkeit gemacht. In der durch die großen Reiche abgesteckten Friedens- und Wohlstandssphäre blühten Fernhandel, Kunst und Architektur.
Doch mit einem Schlag war es mit der Herrlichkeit vorbei. Um 1200 v. Chr. brannten die Paläste, zerfielen die großen Städte zu Staub: Ugarit, Hattuscha, Troja, Mykene. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass nicht eine einzige Ursache wie eine Migrationsbewegung oder eine Hungersnot die Imperien hat zusammenstürzen lassen, sondern eine Systemkrise, die, zuerst kaum merklich, am Rand der Großmächte, irgendwo in der Levante, ihren Anfang nahm. Die bronzezeitlichen Zivilisationen gingen schließlich an ihrer Überkomplexität und am hohen Grad wechselseitiger Abhängigkeit zugrunde.
Nirgendwo steht geschrieben, dass es auch der globalen Moderne so ergehen muss. Historische Präzedenzfälle eignen sich aber stets gut als Illustration dessen, dass man etwas in seiner Potentialität niemals ganz ausschließen sollte. Je komplexer eine Zivilisation ist, je stärker sie, siehe „Ever Given“, auf gegenseitigen Abhängigkeiten beruht, desto anfälliger ist sie auch für Disruptionen jeder Art. Offenbar haben etliche Politiker hierzulande das mittlerweile begriffen und fordern, Europa und Deutschland müssten ihre Abhängigkeit von Asien reduzieren und wieder selbst Schlüsselfähigkeiten vorhalten, um für den Fall der Fälle gerüstet zu sein.
Dass es für diese Erkenntnis einer globalen Seuche bedurfte, ist bedauerlich, aber immerhin hätte die Pandemie so, wenn der Schock nachhaltig genug ist, auch ihr Gutes gehabt.
Autor dieses Beitrages ist Michael Sommer. Der gebürtige Bremer ist Professor für Alte Geschichte an der Uni Oldenburg und Vorsitzender des Philosophischen Fakultätentages, der Interessenvertretung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer in Deutschland. @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de