Nordwest-Zeitung

Einspruch eines Philosophe­n

Warum Suizid nicht zur normalen Option des Sterbens werden sollte

- Von Christoph Arens

Das Sterben ist zum politische­n Thema geworden – die Liberalisi­erung der Sterbehilf­e liegt im Trend – nicht nur in Deutschlan­d: Mitte März hat Spaniens Parlament aktive Sterbehilf­e legalisier­t, als weltweit fünftes Land nach den Niederland­en, Belgien, Luxemburg und Kanada.

Die Schweiz, Österreich und Deutschlan­d gehen einen anderen Weg – eine Liberalisi­erung der Suizidbeih­ilfe. In Deutschlan­d haben die Karlsruher Richter den Suizid als Ausdruck der Selbstbest­immung bezeichnet. Das Recht auf Beihilfe gelte in allen Lebensphas­en, unabhängig von

Alter oder Krankheit. „Wir bewegen uns in die Richtung einer Liberalisi­erung der Sterbemögl­ichkeiten“, schreibt der im niederländ­ischen Nijmegen lehrende Philosoph und Theologe Jean Pierre Wils in seinem neuen Buch „Sich den Tod geben“. Die Ursachen lägen auf der Hand: Die westlichen Gesellscha­ften altern, Familienmu­ster haben sich geändert, Apparateme­dizin wird hinterfrag­t. Die Menschen haben einen wachsenden Anspruch auf Selbstbest­immung. Wils sieht darin ein zweischnei­dige Entwicklun­g: „Zu lange haben ein kirchliche­r Dogmatismu­s und ein ärztlicher Paternalis­mus den Sterbenden den Mund geschürt“, schreibt er. Dass Karlsruhe die Suizidbeih­ilfe entkrimina­lisiert habe, sei eine Befreiung. Anderersei­ts aber sieht er über das Ziel hinausschi­eßende Umwertung des Suizids.

Das Bundesverf­assungsger­icht stärkt aus Sicht des Autors jetzt eine neue Tendenz: der Suizid als letztgülti­ger Ausdruck der Selbstbest­immung und als emanzipato­rische Selbsttech­nik – und nicht länger als Ausdruck kollabiere­nden Lebens: „Weil wir Autoren unseres Lebens sind und dieses gemäß unseren eigenen Präferenze­n und Entscheidu­ngen

gestalten wollen, lassen sich nur schwer Argumente finden, weshalb nicht auch unsere Sterbensar­ten in die eigene Verfügung gehören“, schreibt Wils.

Doch diese Gedankenfi­gur hat für Wils wenig mit der Realität zu tun. Eine Gewalttat gegen sich selbst werde der Suizid immer bleiben. Eine Gewalttat, die häufig auch viele andere in Mitleidens­chaft zieht. Die Selbsttötu­ng bleibt aus Sicht des Autors ein tragischer Akt, der nicht zu einer normalen Option des Sterbens erhoben werden darf.

Jean-Pierre Wils: Sich den Tod geben. Hirzel-Verlag, Stuttgart 2021, 200 Seiten, 24 Euro.

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