Einspruch eines Philosophen
Warum Suizid nicht zur normalen Option des Sterbens werden sollte
Das Sterben ist zum politischen Thema geworden – die Liberalisierung der Sterbehilfe liegt im Trend – nicht nur in Deutschland: Mitte März hat Spaniens Parlament aktive Sterbehilfe legalisiert, als weltweit fünftes Land nach den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Kanada.
Die Schweiz, Österreich und Deutschland gehen einen anderen Weg – eine Liberalisierung der Suizidbeihilfe. In Deutschland haben die Karlsruher Richter den Suizid als Ausdruck der Selbstbestimmung bezeichnet. Das Recht auf Beihilfe gelte in allen Lebensphasen, unabhängig von
Alter oder Krankheit. „Wir bewegen uns in die Richtung einer Liberalisierung der Sterbemöglichkeiten“, schreibt der im niederländischen Nijmegen lehrende Philosoph und Theologe Jean Pierre Wils in seinem neuen Buch „Sich den Tod geben“. Die Ursachen lägen auf der Hand: Die westlichen Gesellschaften altern, Familienmuster haben sich geändert, Apparatemedizin wird hinterfragt. Die Menschen haben einen wachsenden Anspruch auf Selbstbestimmung. Wils sieht darin ein zweischneidige Entwicklung: „Zu lange haben ein kirchlicher Dogmatismus und ein ärztlicher Paternalismus den Sterbenden den Mund geschürt“, schreibt er. Dass Karlsruhe die Suizidbeihilfe entkriminalisiert habe, sei eine Befreiung. Andererseits aber sieht er über das Ziel hinausschießende Umwertung des Suizids.
Das Bundesverfassungsgericht stärkt aus Sicht des Autors jetzt eine neue Tendenz: der Suizid als letztgültiger Ausdruck der Selbstbestimmung und als emanzipatorische Selbsttechnik – und nicht länger als Ausdruck kollabierenden Lebens: „Weil wir Autoren unseres Lebens sind und dieses gemäß unseren eigenen Präferenzen und Entscheidungen
gestalten wollen, lassen sich nur schwer Argumente finden, weshalb nicht auch unsere Sterbensarten in die eigene Verfügung gehören“, schreibt Wils.
Doch diese Gedankenfigur hat für Wils wenig mit der Realität zu tun. Eine Gewalttat gegen sich selbst werde der Suizid immer bleiben. Eine Gewalttat, die häufig auch viele andere in Mitleidenschaft zieht. Die Selbsttötung bleibt aus Sicht des Autors ein tragischer Akt, der nicht zu einer normalen Option des Sterbens erhoben werden darf.
Jean-Pierre Wils: Sich den Tod geben. Hirzel-Verlag, Stuttgart 2021, 200 Seiten, 24 Euro.