Wer ist die Nummer eins in Europa?
Ratschef Michel gibt sich zerknirscht – Doch Machtkampf mit von der Leyen geht weiter
Brüssel – So zerknirscht hat die Europäische Union wohl schon lange keinen ihrer Spitzenvertreter mehr erlebt. Glaubt man Charles Michel, dem Ratspräsidenten der EU, dann plagen ihn seit dem „Sofagate“von Ankara Gewissensbisse der übelsten Art. Er könne „nicht mehr schlafen“, gestand er am Wochenende in mehreren Interviews ein, würde am liebsten „die Zeit zurückdrehen“, nach Ankara „zurückreisen und alles anders machen“. Schließlich sei er kein „Frauenfeind“.
Die Frau und Kollegin, der dieser Kotau galt, war derweil ein paar Tage zur Familie nach Deutschland gereist – wegen der Pandemie zum ersten Mal in diesem Jahr: Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission und in Ankara vor den beiden Präsidenten Michel und Gastgeber Recep Tayyip Erdogan abgelegen auf einem Sofa platziert.
In einer ersten Reaktion hatten die meisten Beobachter die Schuld für die erkennbare Brüskierung von der Leyens bei den türkischen Gastgebern gesucht. Inzwischen schält sich heraus, dass im Hintergrund offenbar andere Kräfte am Werk waren und die Deplatzierung der Kommissionspräsidentin Teil eines Machtkampfes ist, den vor allem Michel und dessen Umfeld pflegen.
Es waren die Protokollexperten des Ratspräsidenten, die die Vorbereitung der Visite übernommen hatten. Mit Blick auf die CoronavirusBeschränkungen verzichtete die EU-Kommission darauf, ihre eigenen Zeremonienmeister mitzuschicken. In Ankara stellten Michels Leute also die Weichen, selbst der vor Ort residierende EU-Botschafter, Nikolaus Meyer-Landrut, beklagte hinterher, Michels Protokoll-Abteilung habe alles an sich gezogen.
Damit nicht genug. Scheibchenweise stellte sich am Wochenende heraus, dass eine weitere Demütigung von der Leyens von ihrem persönlichen Stab verhindert werden konnte. Ein Mitarbeiter hatte nämlich einen Blick in den Saal geworfen, in dem Erdogan die beiden Gäste anschließend bewirten wollte. Am Tisch standen zwei Stühle mit hohen Rückenlehnen – erkennbar für das türkische Staatsoberhaupt und den EURatspräsidenten. Die Kommissionschefin sollte etwas seitlich auf einem Möbel Platz nehmen, das dem der übrigen Entourage aus Brüssel entsprach. In Windeseile wurde ein dritter „Präsidenten-Sitz“herbeigeschafft.
Spätestens da schien klar, dass die Michel-Leute keineswegs einen unbeabsichtigten Fehler begingen, sondern vollzogen, was das Sekretariat des Europäischen Rates in Brüssel auch sonst vertritt: Der Ratspräsident genießt in ihren Augen den Status eines Staatsoberhauptes, die Kommissionspräsidentin nur den einer Premierministerin, einige sagen sogar, sie sei „lediglich“eine Behördenleiterin.