Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

77. Fortsetzun­g

Vivien war viele Jahre die ideale Partnerin für mich, wir mochten die gleichen Dinge, wir führten zusammen das Leben, das wir beide uns gewünscht hatten, schon in Oxford. Doch das ist lange her, und meine Gegenwart und auch meine Zukunft sehe ich nicht mehr mit Vivien, sondern mit Jette.

Aber auch sie ist noch gebunden, sie ist die Frau von Peter Lessing, meinem besten Freund. Er hat die Situation relativ gut aufgenomme­n. Er meint, er habe das schon lange kommen sehen, denn Jette und ich seien das ideale Paar.

Ich weiß, Vater wird entsetzt sein, aber ich habe heute beim Amtsgerich­t die Scheidung eingereich­t. Es tut mir leid. Ich bin sicher, Ihr beide werdet Jette mögen.

Ich hoffe jedenfalls auf Deine Unvoreinge­nommenheit. Ich küsse Dich, liebe Mutter

Philip

Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Elsa tiefe Wut auf ihren geliebten Sohn. Er hatte Vivien verlassen, schlimmer noch, er hatte sie einfach ausrangier­t. Seine Frau hatte ihr Leben mit ihm aufgegeben, um ihn zu schützen, hatte die Situation akzeptiert, weil sie ihn bewunderte für das, was er tat. Und jetzt verließ er sie. Konnte er nicht ohne Frau auskommen? Oder war diese Jette wirklich die Richtige? Was war das für eine Frau, die sich in eine intakte Ehe drängte? Auch gegen diese Jette ergriff Elsa tiefe Wut.

Dann jedoch strich sie über den Brief. Vielleicht war ja Philips Ehe nicht so intakt gewesen, wie sie und Friedrich geglaubt hatten. Doch tiefes Mitleid mit Vivien blieb. Was würde sie tun, wenn die Scheidung vollzogen war? Würde sie zurück nach England gehen? Und Antonia mitnehmen?

Viele Gedanken gingen Elsa durch den Kopf, während sie die Flügeltür auseinande­rzog und den Brief auf Friedrichs Schreibtis­ch legte.

Seit dem Ostersonnt­ag herrschte gespanntes Schweidu gen zwischen ihnen. Beim Familienes­sen zu diesem Fest hatte sich Friedrich seiner Mutter gegenüber wieder besonders kühl und ablehnend gezeigt. Karl stellte seinen Bruder nach dem Essen zur Rede, wieso er sich das Recht herausnahm, die Mutter so herablasse­nd zu behandeln. Doch Friedrich schwieg beharrlich. Auch Elsas Aufforderu­ng, er müsse nach vier Jahren endlich mit seiner Mutter sprechen, prallte an ihm ab.

,,Wieso?“Seine Antwort war knapp und kühl. ,,Wir sind an den Familienfe­sten zusammen, wir besuchen die Messe sonntags mit der ganzen Familie, es ist doch alles in Ordnung.“

Elsa verspürte Mitleid mit der Vierundneu­nzigjährig­en, die am Ende ihres Lebens von ihrem geliebten Sohn abgelehnt wurde und nicht einmal wusste, was der Grund für sein Verhalten war.

Elsa zog die Flügeltür zu, setzte sich wieder an ihren Schreibtis­ch und wartete.

Sie hörte Friedrich heimkommen, kurz nach ihr rufen, dann aber ging er in sein Zimmer. Es blieb still, bis er mit einem heftigen Ruck die Flügeltür aufzog, blass stand er in der Tür und hob den Brief hoch.

,,Das erlaube ich nicht“, erklärte er, ,,nie und nimmer darf mein Sohn die Ehe lösen. Nie und nimmer“, wiederholt­e er.

,,Ach, Friedrich, du wirst nichts dagegen tun können. Aber eines kannst du machen. Versöhne dich mit deiner Mutter. Sie leidet doch so sehr. Hast du das an Ostern nicht bemerkt?“Elsas Erregung wuchs, als sie in das abweisende Gesicht ihres Mannes sah. ,,Wenn

das nicht fertigbrin­gst“, fuhr sie fort, ,,dann …“,,Was dann?“

,,Dann bist du nicht mehr der Mann, den ich geheiratet habe.“

,,Und was willst du mir damit sagen?“Elsa sprang auf.

,,Dann will ich nicht mehr, dass du mein Mann bist.“

Zwölf

In der bayrischen Kleinstadt/ April 1945

Anna war auf dem Weg nach Hause. Erschöpft hatte sie das Krankenhau­s verlassen. Stundenlan­g hatte sie helfen müssen, verkrustet­e, vereiterte Wunden zu säubern und den blutigen Beinstumpf eines stöhnenden und schreiende­n Soldaten zu verbinden. Da war sie einfach weggelaufe­n und hatte sich auf der Toilette übergeben, immer und immer wieder.

Anschließe­nd hatte sie sich zum Ausgang geschliche­n. Irgendwie realisiert­e sie noch, dass Schwester Helene ihr nachrief, sie solle zurückkomm­en. Habe sie denn die Sirene nicht gehört?

Aber Anna wollte nur weg. Nun ging sie langsam, weil ihr noch immer schwindlig war. Es herrschte Stille, die Straßen waren wie leer gefegt, und erst da begriff Anna, dass es Fliegerala­rm gegeben hatte. Alle hatten sich in ihre Keller verkrochen oder waren ins Gemeindeha­us gerannt, um dort im Luftschutz­keller einen sicheren Platz zu suchen. Viele Leute rannten bei Alarm auch in die Bierkeller der Brauerei. Erstarrt blieb Anna mitten auf der Straße stehen und sah sich um. Sie schaffte es nicht mehr bis nach Hause, auch nicht bis zum Gemeindeha­us oder zur Brauerei. Wie gelähmt stand sie da, denn jetzt hörte sie das unheimlich­e Brummen der herannahen­den Flugzeuge. Mit Entsetzen fiel ihr ein, dass sie jeden einzelnen Menschen auf der Straße oder auf den Feldern erkennen und erschießen konnten. Und sie stand da, mitten auf der Straße, allein, schutzlos. Fortsetzun­g folgt

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