Die Penetranz der Ignoranz
Es ist schon erstaunlich, mit welcher Penetranz Politiker Warnungen und Ratschläge von Wissenschaftlern ignorieren. Das wird vor allem deutlich beim Bundesinfektionsschutzgesetz, mit dem die Bundesregierung nach wochenlanger Tatenlosigkeit wieder Handlungsfähigkeit in der Pandemie-Bekämpfung bekommen will.
Zum einen ist es ja so, dass die damit verbundenen Regelungen schon vor Wochen von den Fachleuten mit Blick auf die Intensivstationen gefordert wurden, ohne dass sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten zu irgendeiner Reaktion bewegen ließen, als glaube man, dass sich das Virus irgendwie von selbst vom Acker machen würde. Draußen wird es schließlich immer wärmer, das scheint es nicht zu mögen…
Zum anderen spiegelt das Gesetz die Diskrepanz zwischen politischer Notwendigkeit und der Überzeugung wider, was man der Bevölkerung eigentlich noch zumuten kann. Insofern überrascht die öffentliche Debatte über die „Notbremse“bei steigenden Infektionszahlen mit den vorgesehenen Ausgangssperren oder den Öffnungen oder das Schließen von Schulen wenig.
Noch weniger überrascht die Feststellung, dass alle von den Experten prognostizierten Belastungen der Intensivstationen genauso eingetreten sind. Die Mediziner und Forscher warnten vor weiteren Erleichterungen mit der Gefahr einer dritten Welle, während sich unsere Ministerpräsidenten darin überboten, mit mehr oder weniger fantasievollen Möglichkeiten weiterer Öffnungen die Wirtschaft zu erfreuen.
Wieder einmal werden wir als Folge solcher Ignoranz mit Symbolpolitik konfrontiert, die uns scheinbar unausweichliche Maßnahmen gegen die Seuche aufdrücken. Die Bundesnotbremse soll offenbar nur die Länder dazu zwingen, ihre eigenen Vereinbarungen vom 3. März einzuhalten.
Mir ist völlig schleierhaft, dass man auf der einen Seite ab dem Inzidenzwert 100 Ausgangssperren verhängen will, auf der anderen Seite aber Probleme damit hat, regelmäßige Corona-Tests in Büros gesetzlich anzuordnen.
Noch weniger ist nachvollziehbar, dass bis zu einer Inzidenz von 165 Schulen geöffnet bleiben sollen. Schulzeitsport im Freien der Schüler wie zum Beispiel Fußball bleibt dagegen untersagt – Schüler, die sich morgens und mittags in enge Schulbusse zwängen müssen und dabei einer besonders hohen Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind.
Merkwürdigerweise werden die Expertisen führender Aerosolforscher fast völlig außer Acht gelassen. Dabei böten diese durchaus Möglichkeiten für mehr Bewegungsfreiheit der Menschen. Statt Debatten über den Aufenthalt in Biergärten, Cafés und Restaurants im Freien zu führen, sollten vielmehr strikte Maßnahmen in Innenräumen ergriffen werden, heißt es in einem Schreiben der Forscher an die Bundesregierung.
Denn in den Innenräumen herrsche die höchste Gefahr einer Ansteckung. Dort drohe auch dann eine Infektion, wenn man sich nicht direkt mit jemandem trifft, sich aber ein Infektiöser vorher in einem schlecht belüfteten Raum aufgehalten hat, warnen sie.
Dringend notwendig wäre es, Raumluftreiniger und Filter überall dort zu installieren, wo Menschen sich länger in geschlossenen Räumen aufhalten müssen wie in Pflegeheimen, Büros und Schulen. Das trägt weit mehr dazu bei, Ansteckungen zu verhindern, als Ausgangsbeschränkungen anzuordnen. Noch nicht einmal ansatzweise ist jedoch in der Politik über solche Maßnahmen konkret nachgedacht worden. Jedenfalls wurden sie nicht öffentlich gemacht.
Auch auf eine weitere Schwäche des Bundesinfektionsschutzgesetzes haben die Wissenschaftler hingewiesen. Die ohnehin nicht nachvollziehbare Festlegung der Sieben-Tage-Inzidenz müsste ersetzt werden durch die Zahl der intensivmedizinischen Neuaufnahmen binnen einer Woche aus einer bestimmten Region. Dieser Wert würde viel stabiler die epidemische Lage anzeigen.
Aber auch hier: keine politische Reaktion, auch hier die Penetranz der Ignoranz.
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