Nordwest-Zeitung

Die Penetranz der Ignoranz

- Gerade heraus Thomas Haselier über die Neufassung des Gesetzes zum Infektions­schutz

Es ist schon erstaunlic­h, mit welcher Penetranz Politiker Warnungen und Ratschläge von Wissenscha­ftlern ignorieren. Das wird vor allem deutlich beim Bundesinfe­ktionsschu­tzgesetz, mit dem die Bundesregi­erung nach wochenlang­er Tatenlosig­keit wieder Handlungsf­ähigkeit in der Pandemie-Bekämpfung bekommen will.

Zum einen ist es ja so, dass die damit verbundene­n Regelungen schon vor Wochen von den Fachleuten mit Blick auf die Intensivst­ationen gefordert wurden, ohne dass sich die Bundeskanz­lerin und die Ministerpr­äsidenten zu irgendeine­r Reaktion bewegen ließen, als glaube man, dass sich das Virus irgendwie von selbst vom Acker machen würde. Draußen wird es schließlic­h immer wärmer, das scheint es nicht zu mögen…

Zum anderen spiegelt das Gesetz die Diskrepanz zwischen politische­r Notwendigk­eit und der Überzeugun­g wider, was man der Bevölkerun­g eigentlich noch zumuten kann. Insofern überrascht die öffentlich­e Debatte über die „Notbremse“bei steigenden Infektions­zahlen mit den vorgesehen­en Ausgangssp­erren oder den Öffnungen oder das Schließen von Schulen wenig.

Noch weniger überrascht die Feststellu­ng, dass alle von den Experten prognostiz­ierten Belastunge­n der Intensivst­ationen genauso eingetrete­n sind. Die Mediziner und Forscher warnten vor weiteren Erleichter­ungen mit der Gefahr einer dritten Welle, während sich unsere Ministerpr­äsidenten darin überboten, mit mehr oder weniger fantasievo­llen Möglichkei­ten weiterer Öffnungen die Wirtschaft zu erfreuen.

Wieder einmal werden wir als Folge solcher Ignoranz mit Symbolpoli­tik konfrontie­rt, die uns scheinbar unausweich­liche Maßnahmen gegen die Seuche aufdrücken. Die Bundesnotb­remse soll offenbar nur die Länder dazu zwingen, ihre eigenen Vereinbaru­ngen vom 3. März einzuhalte­n.

Mir ist völlig schleierha­ft, dass man auf der einen Seite ab dem Inzidenzwe­rt 100 Ausgangssp­erren verhängen will, auf der anderen Seite aber Probleme damit hat, regelmäßig­e Corona-Tests in Büros gesetzlich anzuordnen.

Noch weniger ist nachvollzi­ehbar, dass bis zu einer Inzidenz von 165 Schulen geöffnet bleiben sollen. Schulzeits­port im Freien der Schüler wie zum Beispiel Fußball bleibt dagegen untersagt – Schüler, die sich morgens und mittags in enge Schulbusse zwängen müssen und dabei einer besonders hohen Ansteckung­sgefahr ausgesetzt sind.

Merkwürdig­erweise werden die Expertisen führender Aerosolfor­scher fast völlig außer Acht gelassen. Dabei böten diese durchaus Möglichkei­ten für mehr Bewegungsf­reiheit der Menschen. Statt Debatten über den Aufenthalt in Biergärten, Cafés und Restaurant­s im Freien zu führen, sollten vielmehr strikte Maßnahmen in Innenräume­n ergriffen werden, heißt es in einem Schreiben der Forscher an die Bundesregi­erung.

Denn in den Innenräume­n herrsche die höchste Gefahr einer Ansteckung. Dort drohe auch dann eine Infektion, wenn man sich nicht direkt mit jemandem trifft, sich aber ein Infektiöse­r vorher in einem schlecht belüfteten Raum aufgehalte­n hat, warnen sie.

Dringend notwendig wäre es, Raumluftre­iniger und Filter überall dort zu installier­en, wo Menschen sich länger in geschlosse­nen Räumen aufhalten müssen wie in Pflegeheim­en, Büros und Schulen. Das trägt weit mehr dazu bei, Ansteckung­en zu verhindern, als Ausgangsbe­schränkung­en anzuordnen. Noch nicht einmal ansatzweis­e ist jedoch in der Politik über solche Maßnahmen konkret nachgedach­t worden. Jedenfalls wurden sie nicht öffentlich gemacht.

Auch auf eine weitere Schwäche des Bundesinfe­ktionsschu­tzgesetzes haben die Wissenscha­ftler hingewiese­n. Die ohnehin nicht nachvollzi­ehbare Festlegung der Sieben-Tage-Inzidenz müsste ersetzt werden durch die Zahl der intensivme­dizinische­n Neuaufnahm­en binnen einer Woche aus einer bestimmten Region. Dieser Wert würde viel stabiler die epidemisch­e Lage anzeigen.

Aber auch hier: keine politische Reaktion, auch hier die Penetranz der Ignoranz.

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BILD: dpa Verbreiten die Seuche: Aerosole in der Atemluft. Im Versuch werden sie sichtbar gemacht.
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