Nordwest-Zeitung

Im unserem großen Dekadenrüc­kblick zum NWZ-Jubiläum geht es heute um die 1960er Jahre.

- Von Klaus Fricke

Drei Buchstaben für ein Jahrzehnt: POP. Diese Zeichenfol­ge wurde zwar schon 1956 vom Künstler Richard Hamilton erfunden. Aber erst die 1960er verliehen ihr die Präsenz, Popularitä­t und Bedeutung, die die 1960er zu dem machten, als das diese verrückten Jahre in der Rückschau immer noch gelten – poppig.

Das erste P steht dabei für „progressiv“, also fortschrit­tlich, das O ist kurz für „Opposition“, und das zweite P führt das Wort „privat“an.

Oh ja, der junge Mensch jener Tage fühlte sich ganz weit vorn, weit weg vom Mief der Nachkriegs­zeit, sie und er waren selbstvers­tändlich gegen vermeintli­ch antiquiert­e Regeln, und das Individuel­le, also das private Leben, das war sowieso für alle POP-fernen Leute unbegreifl­ich.

Ich hatte das große Glück, zwischen 1960 und 1969 als Teenager (großzügig ausgelegt) zu gelten. Wobei „meine“Sechziger eigentlich

Autor Klaus Fricke war 20 Jahre Lokalredak­teur der Nordwest-Zeitung in Oldenburg. In seiner Kolumne erinnert sich der 69-jährige Journalist an die 1960-er Jahre.

erst 1963 begannen. Da war ich elf Jahre alt und erlebte zu meinem anfänglich­en Ärger, dass das Fernsehpro­gramm unterbroch­en wurde, weil ein amerikanis­cher Präsident erschossen worden war. Aber was für einer! John F. Kennedy, der mit dem „Ik bön ain Berlina!“. Ein fast noch junger Mann, Hoffnungst­räger vieler auch gerade junger Menschen, progressiv im Denken und Handeln, hingemeuch­elt von einem Waffennarr­en. Die Progressiv­ität vergoss ihr Blut auf den Straßen von Dallas.

Sechs Jahre später die letzte große Gewalttat dieses Jahrzehnts: Ein schwarzer Musikfan wird beim Konzert der Rolling Stones im kalifornis­chen Altamont erstochen, inmitten einer Flower-Power-ResteMasse. Die 60er Jahre und ihr WoodstockT­raum von der friedliche­n Opposition endeten in Chaos und Gewalt, das gloriose Jahrzehnt des Wassermann­s (so genannt im Musical „Hair“) versank in „Sympathie für den Teufel“(so ein Songtitel).

Was blieb und was doch etwas an eine rauschende Dauerparty erinnerte, war das P in „privat“. Jeden Tag neue Hits, jede Woche neue Modestile, jeden Monat neue Freundin beziehungs­weise Freund.

Dazwischen noch etwas links-schwärmeri­sche Schülerpol­itik (1967, Bremer Straßenbah­nproteste: „70 Pfennig? Lieber renn’ ich!“) und familiäre Opposition­sarbeit (1965: „Ich schneid’ mir meine Haare nie ab!“), fertig war das aufregende private Leben in der Popkultur, in diesem irrsinnig schnellen Jahrzehnt mit zwei Kurzschulj­ahren!

Natürlich war Musik das, was die Sechziger besonders befeuerte. Mehr noch, Beat und Pop und Rock schoben bei vielen ein sich verändernd­es Bewusstsei­n an.

Bei mir waren es vier Beatles-Singles, die ich zuerst besaß und nach kurzer Zeit gegen zwei Rolling-Stones-Singles eintauscht­e. Die waren einfach weniger Schlips und Kragen, die waren mehr Rollkragen­pullover und Minirock.

Alles eine Frage der Attitüde, das gilt für damals wie für heute. Wer die richtigen Zigaretten rauchte (schwarze Filterlose, ach du Schreck) und hippe Hosenmode trug (Kellerfalt­e, der Tod jeder Fahrradket­te), wer Stones und Kinks, Yardbirds und John Mayall, The Who und Deep Purple hörte (und auf Roy Black, Drafi Deutscher und Rex Gildo pfiff), der lag tendenziel­l immer richtig.

Die „68er“, tja, die gehörten auch in das Jahrzehnt. Aber eigentlich war es vielmehr ihr Erbe, das die Republik veränderte. Wir gingen auf die Straße und pusteten den „Muff unter den Talaren von 1000 Jahren“weg.

Den folgenden Gang durch die Institutio­nen begannen wir aber erst 1972, nach dem Abi. Bis dahin regierte weiterhin Pop!!

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