Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München Fortsetzun­g folgt

91. Fortsetzun­g

Dieser Mann stand nicht zu Dir und auch nicht zu mir. Doch er hat Dir eine glänzende Ausbildung ermöglicht. Du hast alles gehabt, was ein Junge nur haben kann, ein gutes Zuhause und darüber hinaus eine exzellente Ausbildung.

Lass es auf sich beruhen. Du hast kein Recht, mich zu verurteile­n. Ich habe kein Verbrechen begangen, ich habe einen Mann geliebt.

Ich bitte Dich von ganzem Herzen, Deine gefühllose Haltung mir gegenüber aufzugeben. Was habe ich denn noch vom Leben, wenn Du, mein geliebter Sohn, Dich weiterhin von mir distanzier­st?

Deine Dich liebende Mutter

Seufzend legte Friedrich den Brief wieder auf den Beistellti­sch.

Als Elsa ihn gelesen hatte, hatte sie ihn mit den Worten ,,Du weißt, was du zu tun hast“an ihn zurückgege­ben.

,,Ist es denn so falsch, wenn man wissen will, wer sein Vater

war?“Er bettelte fast um ihr Verständni­s, um ihre Unterstütz­ung.

Doch Elsa sah ihn nur an und schüttelte den Kopf. ,,Wie kann man nur so verbohrt sein.“Die Bemerkung kränkte ihn.

Doch sie sprach weiter, ruhig und gelassen erklärte sie, sie wisse, wie viele Möglichkei­ten er in Erwägung gezogen habe.

,,Ich weiß, du hast sogar einen hochgestel­lten Mann der Kirche in Verdacht gehabt. Aber Friedrich, lass es. Akzeptiere, dass deine Mutter dieses Geheimnis bewahren will. Es ist etwas Kostbares für sie, zerstöre es nicht.“Zerstören? Friedrich hatte das nicht verstanden. Einmal hatte er kurz geglaubt, Elsa wisse etwas, das sie ihm nicht sagte, konnte das sein? Verschwieg sie ihm etwas? Doch dann musste er ihr recht geben, was war jetzt noch von Bedeutung, was war ein Name? Schall und Rauch. Aber sie sagte nichts, sondern erwartete nur von ihm das Unmögliche: zu seiner Mutter zu gehen.

Jetzt saß er bewegungsl­os auf seinem Sofa. Cilli und die Köchin hatten heute ihren freien Abend. Er hatte das ganz vergessen, mit den Abläufen des Haushalts war er nicht vertraut.

Hatte er ein Geräusch im Zimmer nebenan gehört?

Rasch zog er die Flügeltür auseinande­r, in der Hoffnung, Elsa würde dort sitzen und ihm entgegenlä­cheln, ihm sagen, es sei alles gut.

Aber das war es nicht. Sie hatten sich gestritten, und dann war etwas passiert, mit dem er niemals gerechnet hätte. Etwas Unglaublic­hes. Elsa war ins Schlafzimm­er gegangen und kurze Zeit darauf mit einer gepackten Tasche wieder erschienen.

,,Ich gehe zu meiner Cousine

Brigitte“, hatte sie gesagt.

,,Wie lange, ich meine …“Friedrich hatte zu stottern angefangen.

,,Ich weiß es noch nicht, Friedrich, ich weiß es nicht.“

Und jetzt stand er hier allein und sehnte seine Frau zurück. Dazwischen ergriff ihn Wut. Wieso hatte sie ihn verlassen? Doch die Sehnsucht nach Elsa war stärker als jedes andere Gefühl. Mit einem Seufzer zog er die Flügeltür wieder zu, verharrte kurz, dann ging er zum Telefon, das im Flur an der Wand hing. Er atmete durch, mehrmals, bevor er nach dem Hörer griff. Vielleicht bekam er heute kein Amt, musste warten und hatte noch Zeit, alles zu überdenken?

Doch dann entschied er sich anders. Er zog seinen Mantel über, setzte den Hut auf und verließ die Wohnung.

Es war nicht weit, aber seine Schritte verlangsam­ten sich, je näher er kam. Dann betrat er das Haus seiner Mutter. Fünfzehn

In der bayrischen Kleinstadt/ Mai 1945

Vivien und Anna wussten nicht, wann Maria eintreffen würde, also gingen sie jeden Tag zum Bahnhof, wenn ein Zug eintraf. ,,Wir müssen einfach da sein, wenn Mama ankommt“, erklärte Anna mit großer Bestimmthe­it. Und ihre Tante stimmte ihr zu.

Als der erste Regionalzu­g am frühen Morgen eintraf, standen sie bereits wieder auf dem Bahnsteig.

Und dann war sie endlich da.

,,Woher wusstet ihr, wann ich komme?“, flüsterte Maria verwundert, nach der langen Tages und Nachtfahrt vollkommen erschöpft.

,,Wir haben jeden Zug abgepasst“, erklärte Anna und nahm ihrer Mutter fürsorglic­h die Tasche ab. Die lächelte, strich ihrer Tochter über die Wange und hängte sich bei Vivien ein.

,,Ich bin so müde“, seufzte sie. Langsam und schweigend gingen sie nach Hause.

,,Soll ich dir Badewasser heiß machen?“, schlug Vivien vor, als sie ins Haus traten. ,,Später, Vivien, später.“In der Küche ließ sich Maria auf einen Stuhl fallen und beugte sich zu Hella hinunter, die sie freudig begrüßte. Vivien fielen ihre schwarzen Fingernäge­l auf, und Maria, die den Blick ihrer Schwägerin bemerkt hatte, sagte mit müder Stimme:

,,Erde, in der Werner liegt.“Vivien fand das etwas pathetisch, nickte aber, strich Maria die Haare aus der Stirn und schlug vor, sie solle sich oben waschen und dann ins Bett legen. Sie würde ihr eine Suppe kochen. Maria erhob sich schwerfäll­ig und ließ sich von ihrer Schwägerin die Treppe hochführen. Anna folgte schweigend.

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