Wie geht Politik mit Emotionen?
Der Unterschied zwischen den USA und Deutschland ist gewaltig
Joe Biden kommen die Tränen. Es ist der 19. Januar, der Tag vor seiner Vereidigung als US-Präsident. Biden verabschiedet sich aus seinem Heimat-Bundesstaat Delaware, bei einer Rede an einem Stützpunkt der Nationalgarde, der nach seinem verstorbenen Sohn Beau benannt ist. Mehrfach bricht Biden die Stimme.
Der mächtigste Mann der Welt scheut sich nicht, vor laufender Kamera zu weinen. Das haben auch andere US-Präsidenten schon getan, etwa Barack Obama. Auch unter Abgeordneten, Senatoren, Politikern und Offiziellen aller Art sind Gefühlsausbrüche in den USA nichts Ungewöhnliches. Im US-Kongress werden regelmäßig Tränen vergossen. Doch Biden sticht heraus. Er hat in seinem Leben ein Maß an privatem Schmerz ertragen müssen, an dem ein Mensch leicht zerbrechen kann. Als junger Mann verlor er 1972 seine damalige Frau Neilia und die gemeinsame Tochter Naomi bei einem Autounfall. Seine Söhne Beau und Hunter überlebten. Es blieb nicht bei der einen Katastrophe: 2015 starb Bidens Sohn Beau im Alter von 46 Jahren an den Folgen eines Hirntumors. Und Hunter hatte mit schwerer Drogensucht zu kämpfen. Biden spricht oft und viel über die schweren Schläge in seinem Leben. In Interviews, bei öffentlichen Reden, in Gesprächen mit Bürgern. Seine Botschaft: Ich weiß, wie es ist, zu leiden und zu trauern, wie es sich anfühlt, am Kummer fast zugrunde zu gehen, und wie es ist, trotzdem weiterzumachen. Das Ausmaß, in dem Biden persönliche Erlebnisse und Emotionen gezielt in seiner politischen Arbeit einsetzt, ist selbst für US-Verhältnisse beachtlich.
Auch nach den jüngsten größeren Schussattacken mit mehreren Toten in den USA verwies das Weiße Haus bei den Beileidsbekundungen an die Angehörigen auf Bidens eigene Erfahrung mit Verlust.
Er selbst sagte bei einer Veranstaltung zu Waffengewalt am Donnerstag, wer einen geliebten Menschen beerdige, begrabe immer auch einen Teil seiner eigenen Seele.
In der deutschen Politik haben Emotionen und Privates dagegen nicht viel Platz, gelten im Zweifel als unsachlich, irrational, störend. Ein Abgeordneter, der bei einer Rede im Parlament zu weinen beginnt? Eine Ministerin, deren Stimme bei einem Auftritt aus Rührung versagt? Eine Kanzlerin, der bei einer Ansprache Tränen über die Wangen laufen? In Deutschland rar bis undenkbar. Schicksalsschläge behalten Politiker hier überwiegend für sich, Krankheiten bringen sie nur an die Öffentlichkeit, wenn es sich nicht vermeiden lässt, Themen wie Sucht oder Depression sind quasi tabu.
Dagmar Wöhrl hat in ihrem Leben ähnlichen Schmerz erfahren wie Biden, doch sie ging anders damit um. Die frühere CSU-Bundestagsabgeordnete und Wirtschaftsstaatssekretärin verlor 2001 ihren Sohn durch einen Unfall. Der Zwölfjährige stürzte damals daheim vom Dach des Familienhauses und starb.
23 Jahre lang hatte Wöhrl einen Sitz im Bundestag, 2017 schied sie aus. In ihrer aktiven politischen Zeit sprach sie kaum öffentlich über den Unfall ihres Sohnes. Ihr sei klar gewesen, „dass ich – solange ich politisch aktiv war – den Tod meines Sohnes nicht ,politisch verwerten‘ wollte. Ich wollte immer wegen meiner Leistung wahrgenommen werden, nie wegen eines Schicksalsschlages.“
Empathie zu empfinden und diese auch zu zeigen, sei ein Muss für jeden Politiker, meint Wöhrl. „Dazu sollte er auch ohne Schicksalsschläge in der Lage sein.“Emotionen zu teilen, mache einen Politiker nahbarer. In den vergangenen Jahren habe sich durch die sozialen Medien in dieser Hinsicht viel getan. Aber das Ausmaß in den USA sei ihr „ein bisschen ,too much‘“.