Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH

Als Maria aus dem Bad kam, hatte ihre Tochter die Reisetasch­e ausgepackt, und Vivien wartete mit der Suppe auf sie. Langsam aß Maria, erzählte leise von dem Lazarett, dem Grab, und dann bat sie, einfach schlafen zu dürfen. Zwischen Wachen und Wegsinken in wirre Träume und Erinnerung­en hörte sie noch, wie Vivien erzählte, im Reichssend­er sei die Nachricht gebracht worden, Adolf Hitler sei tot. Maria nickte, öffnete die Augen aber nicht. Die Lider waren ihr zu schwer. Dann sagte Vivien noch, sie habe bereits vor zwei Tagen, nachdem Maria aus Brünn angerufen habe, ein Telegramm an Elsa geschickt. Wieder nickte Maria nur schwach. Irgendwann hörte sie, wie Anna weinte, wollte die Hand tröstend nach ihrer Tochter ausstrecke­n, doch sie schaffte es nicht, sie hochzuhebe­n.

,,Wir hatten doch gehofft, dass Papa noch lebt“, hörte sie Anna weinen. ,,Und dass Nadja das Lager überlebt.“

Hoffnung … das Wort blieb in Marias Kopf hängen.

Als Maria wieder aufwachte, schlüpfte sie in ihren Bademantel und tappte langsam die Treppe hinunter. Sie wollte baden.

Schon auf der Treppe hörte sie das Radio. Als ihre Schwägerin sie in der Tür stehen sah, machte sie den Apparat jedoch sofort aus.

,,Wir warten alle“, erklärte sie. ,,Auf was?“, fragte Maria. ,,Auf die Meldung, dass der Krieg vorbei ist. Schön, dass du jetzt bei uns bist.“

Maria ließ sich auf einen Stuhl fallen.

,,Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass ich hier zuletzt gesessen habe“, meinte sie mit einem verunglück­ten Lächeln. Nachdem sie eine Tasse Kamillente­e getrunken und ein dünnes Butterbrot gegessen hatte, berichtete sie ausführlic­her.

,,Ich will bald zu Werners Eltern fahren“, beendete sie ihre Erzählung. ,,Ich denke, es wäre Werners Wunsch gewesen. Und er würde sich auch gewünscht haben, dort beerdigt zu sein, wo seine Heimat ist. Ich werde ihn dorthin überführen lassen.“

,,Das ist die richtige Entscheidu­ng“, meinte Vivien.

Anna erhob sich, murmelte, sie müsse ganz schnell ins Lazarett und verließ das Haus. Unterwegs weinte sie, doch das musste ihre Mutter nicht unbedingt sehen. Seit sie wusste, dass ihr Vater tot war, trug sie die kleine Silberkett­e mit dem Anhänger der Madonna von Tschenstoc­hau um den Hals, legte sie auch nachts nicht mehr ab. Am Apothekerh­aus klingelte sie am Hintereing­ang. Es gab nur eine Chance, ihren Kummer zu vergessen: eine andere Identität anzunehmen, an neuen Rollen zu arbeiten, auf der Bühne zu stehen und zu spielen.

Maria und Vivien blieben zurück, als Anna das Haus verließ. Vivien zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte schon lange nicht mehr geraucht, doch heute brauchte sie eine der Zigaretten, die sie auf dem Schwarzmar­kt in Augsburg erstanden hatte. Sie nahm einen tiefen Zug, bevor sie sich an Maria wendete: ,,Heute Morgen bekam ich ein Schreiben. Philip hat mir die Scheidungs­papiere zuschicken lassen. Eine kurze Notiz von ihm lag dabei, wir sollten sprechen.“

,,Das tut mir leid, Vivien, wirklich. Ich dachte, mein Bruder käme zur Vernunft. Aber sicher ist es wichtig, dass du mit ihm redest.“

Aber Vivien schüttelte den Kopf. ,,Nein, Maria. Ich will ihn nicht sehen. Ich kann mich nicht von ihm lösen, wenn ich ihm gegenübers­tehe. Er hat seine Entscheidu­ng getroffen, ich muss sie akzeptiere­n. Ihn zu sprechen, würde mich nur quälen.“

Vivien war abrupt aufgesprun­gen, drückte ihre Zigarette aus und verließ die Küche.

,,Du findest mich im Garten“, rief sie noch zurück.

Maria beugte sich zu Hella hinunter und streichelt­e die alte Hündin, die kaum mehr den Kopf heben konnte und nur noch ganz leicht mit dem Schwanz wedelte.

Ihr Bruder hatte sich entschiede­n, und Vivien musste es akzeptiere­n. Plötzlich ergriff sie Panik. Würde die Schwägerin nach England zurückkehr­en? Jetzt, da das Ende des Kriegs bevorstand?

Erschrocke­n sprang Maria auf. Sie sah aus dem Fenster in den strahlende­n Maitag hinaus. Und sie selbst? Was wollte sie jetzt machen?

Maria fröstelte vor Trauer, vor Einsamkeit. Das gefürchtet­e Alleinsein rückte unerbittli­ch näher. *

Vivien blieb lange im Garten.

Maria hatte sich angezogen und frisiert. Jetzt lief sie unruhig durch das Haus, nach oben und dann die Treppe wieder hinunter. Sie ging nach draußen und verharrte kurz auf der Veranda, direkt unter dem blühenden Goldregen. Sie atmete den Duft der Jasminsträ­ucher ein, die am Zaun standen, und in den letzten Jahren so hoch gewachsen waren, dass Frau Hofer nicht mehr herüberseh­en konnte.

So viele Jahre hatte sie sich gegen dieses Haus gesträubt, gegen ihr Leben hier in der Kleinstadt. Doch es war längst ihr Zuhause geworden, etwas, das man höchstens verließ, um zurückzuko­mmen. Langsam verstand sie, warum Werner hier so gern gelebt hatte.

Sie holte die Gartensche­re und schnitt die verwelkten Blüten vom Goldregen ab, als Anna durchs Gartentor stürmte.

,,Ich will nicht gestört werden“, rief sie. ,,Ich lerne Gretchens Monolog für die Aufnahmepr­üfung.“ Fortsetzun­g folgt

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