DIE STUNDE UNSERER MÜTTER
Schon war sie im Haus verschwunden. Maria folgte ihr und rief sie zu sich.
,,Du und Antonia, ihr habt doch in der Schule Manfred Aumüller gekannt, oder?“, fragte sie ihre Tochter. Vor Jahren hatte sie das Gefühl gehabt, Anna und auch Antonia wären in den hübschen Jungen verliebt und hätten sich seinetwegen auch öfter gestritten.
,,Ja?“, antwortete Anna mit dünner Stimme. ,,Was ist mit ihm?“Maria sah ihre Tochter prüfend an, während sie wieder holte, was ihr Frau Hofer vorhin über den Zaun hinweg erzählt hatte. Die neugierige Telefonistin, Frau Bucher, habe ein Gespräch mit angehört. Manfred Aumüller habe seine Mutter aus der Schweiz angerufen, und seitdem gehe die nur noch mit einem strahlenden Gesicht durch die Stadt. Ihr Sohn sei wohl einer der Deserteure gewesen, die die SS gejagt hatte, aber nicht festnehmen konnte. Annas blasses Gesicht wurde von tiefer Röte überzogen. Sie atmete durch.
,,Jetzt kann ihm die SS nichts mehr antun, oder?“
,,Nein, Anna, natürlich nicht. Aber geht es dir gut? Ich dachte, du freust dich.“
,,Das tue ich ja, das tue ich ja.“Dann erklärte sie hastig, sie müsse jetzt wirklich an ihrer Rolle lernen, denn nichts sei für sie so bedeutend wie die Aufnahmeprüfung. Schon lief sie die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer, warf sich aufs Bett und stieß einen kleinen Jubelschrei aus. Manfred lebte. War das kein Grund zu jubeln, zu lachen und sich zu freuen?
Maria setzte sich auf die Bank. Anna war immer ablehnend gewesen, und auch jetzt fühlte sie sich ausgeschlossen. Sie hätte gern von ihrer Tochter gewusst, ob sie damals wirklich in Manfred Aumüller verliebt gewesen war. Außerdem hatte Maria mit Siglinde Stockmann gesprochen, die Anna zur Aufnahmeprüfung begleiten wollte, und Maria spürte den Stich der Eifersucht. Dann aber musste sie zugeben, dass Frau Stockmann ihrer Tochter eine bessere Hilfe sein würde, denn sie kannte den Leiter der Schauspielschule. Frau Stockmann hatte Maria sogar vorgeschlagen, dass Anna in Wien bei ihrer Schwester wohnen könne, wenn sie dort eine Ausbildung machen würde.
,,Und von was sollen wir das bezahlen?“Marias Ablehnung war groß gewesen, auch hier spielte die Eifersucht mit.
,,Es wird sich schon was finden. Ihre Tochter ist hochbegabt“, hatte Frau Stockmann ihr erklärt. ,,So ein Talent ist etwas Besonderes, das muss gefördert werden. Krieg hin oder her.“
Nach diesem Gespräch war Maria noch nicht bereit gewesen, ihrer Tochter zu erlauben, auf die Schule des Wiener Burgtheaters zu gehen. Vielleicht sollte Anna zuerst etwas anderes lernen, etwas Vernünftiges, von dem sie leben konnte, wenn das mit der Schauspielerei nichts wurde. Das konnte sie zur Bedingung machen.
Dann aber wurde Maria unsicher. Was hätte Werner dazu gesagt, dass es ihre Tochter auf die Bühne drängte?
,,Jeder Mensch kommt mit einer bestimmten Begabung auf die Welt. Und wenn er zum Künstler geboren ist, ist das etwas Besonderes.“Das hatte Werner einmal gesagt, er hatte Schauspieler und Schriftsteller immer sehr bewundert.
Maria erhob sich und ging in sein Arbeitszimmer, das immer noch vollgestopft war mit den Kartons und den alten
Möbeln vom Speicher. Sie räumte das Sofa frei, auf dem fünf Stühle gestapelt waren, und setzte sich.
An den Wänden standen die Bücherschränke, voll mit ledergebundenen Romanen und Klassikern der deutschen und englischen Literatur. Werner hatte oft Friedrich Schiller, Goethe und Shakespeare zitiert. Und bei einer ihrer ersten Verabredungen hatte er ihr sogar erzählt, er wäre gern Opernsänger oder Schauspieler geworden, aber er habe sich dann doch für die Forstwissenschaft entschieden, seinen Eltern zuliebe. Sie wollten, dass er Akademiker wurde und promovierte.
Wie hatte sie das vergessen können? Hatte Anna vielleicht von ihm ihr Talent geerbt?
Dann durfte sie sich nicht dagegen stellen. Sie würde Anna sagen, dass sie nach Wien gehen konnte und ihre ganze Unterstützung haben würde. ,,Dein Vater“, würde sie sagen, ,,hätte es gewollt, und er wäre stolz auf dich.“
*
Vivien war an diesem Dienstag nach Augsburg gefahren. Ein spontaner Einfall, den sie bereits bereute, als sie das Hotel Vier Jahreszeiten betrat und sich in der Halle umsah. Heute stand eine andere Frau hier als noch vor fünf Monaten. Vivien trug eine lange Hose, flache Schuhe und ihre weiße Bluse. Ihr Haarschnitt war noch kürzer, und als sie auf ihre Hände sah, steckte sie sie rasch in die Hosentaschen, denn sie waren von der Frühjahrssonne gebräunt und hatten Schwielen von der Gartenarbeit. Tassilo wäre vielleicht entsetzt, wenn er sie sah. Wenn er überhaupt kam.
Es war eine dumme Idee gewesen hierherzukommen. Sie spürte, dass sie es nicht ertragen würde, wenn er sie ansah und sie in seinen Augen Erstaunen und dann Ablehnung lesen würde.
Rasch wandte sie sich um und ging zur Drehtür. Es war besser, sich die Erinnerung zu bewahren.