Corona bringt Kinder in prekäre Lage
Sportwissenschaftler befürchtet langfristige Folgen – Herausforderung für Vereine
Dirk Büsch erklärt, warum Corona-Einschränkungen gerade für Kinder zu einem Dilemma führen und warum viel Arbeit auf die Vereine wartet.
Herr Prof. Büsch, die Beschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie legen den Vereinssport seit mehr als einem Jahr größtenteils lahm. Es heißt, vom Bewegungsmangel sind vor allem Kinder betroffen. Stimmt das?
Prof. Dirk Büsch: Die Aussage würde ich unterschreiben. Es wird beobachtet, dass durch die eingeschränkten sozialen Kontakte die Bewegung der Kinder deutlich reduziert ist.
Was heißt deutlich reduziert? Büsch: Was die tägliche Bewegungszeit im Alltag angeht, sind wir gerade sehr weit von dem entfernt, was die Weltgesundheitsorganisation WHO als für gesundheitliche Faktoren notwendig empfiehlt. Das sind mindestens 12 000 Schritte am Tag, um eine Grundaktivität sicherzustellen. Viele Menschen, die zu Hause arbeiten, kommen aber nur auf 2000 Schritte. Die Lage für die Kinder ist prekär, und wir werden viele Jahre brauchen, um das alles wieder zu kompensieren, um Aktivitäten wieder hochzufahren, um Kinder wieder in Bewegung zu bringen.
Auch der Schulsport fällt seit Monaten aus. Was hat das für Folgen?
Büsch: Mit dem Schulsportunterricht fällt der einzige Zugang weg, um alle Kinder in Bezug auf ihre körperliche Grundbildung zu erreichen. Für die körperliche Entwick
lung ist Bewegung notwendig. Und viele Studienergebnisse zeigen zudem, dass körperlich aktive Kinder in der Regel auch kognitiv bessere Leistungen zeigen.
Gibt es Ideen, dem Bewegungsmangel entgegenzuwirken oder ihn abzumildern? Büsch: Das ist ein Dilemma. Denn eine wesentliche Komponente, warum Kinder sich bewegen, ist ja, dass sie soziale Erlebnisse haben, und damit bewegt werden können. Und das entfällt. Bei vielen Kindern, für die Bewegung oder Sport nicht zum normalen Leben gehört, wird vermutlich die Peer Group, also das gleichaltrige Umfeld, auch nicht dafür sorgen, dass sie sich mehr bewegen. Dann wäre man wieder auf Vereinsund Schulsport angewiesen.
Was ist mit den Eltern? Büsch: Das Dilemma lässt sich wohl auch nicht dadurch lösen, dass man Eltern sagt: Ihr müsst eure Kinder hinaus schicken, damit sie sich bewegen. Denn sie müssten es allein tun. Erklären Sie mal einem Achtjährigen, er muss jetzt eine Stunde joggen. Der wird nicht begeistert sein. Wenn die Inzidenzen sinken und wenigstens fünf und mehr Kinder zusammenkommen können, ist das der erste Schritt. Jede Möglichkeit, mehrere Kinder zusammenzubringen, anzuleiten und wieder in Bewegung zu bringen, ist entscheidend.
Also sind dann die Vereine gefragt?
Büsch: Ich hoffe, dass die Vereine bereit sind, sobald die Inzidenzen runtergehen – aber
so nehme ich das auch wahr aus dem organisierten Sport. Es treten ja aktuell viele Leute aus Vereinen aus, weil nichts stattfindet. Diese Menschen wieder für den Verein zu gewinnen, wird nicht von heute auf morgen passieren. Da wird man einen großen Aufwand betreiben und Geld in die Hand nehmen müssen. Deshalb wollen die Vereine die Kinder und Jugendlichen nicht verlieren. Sie wollen ihnen etwas bieten und warten händeringend auf die Freigabe, dass wenigstens fünf und mehr Kinder zusammenkommen dürfen.
Und solange verlagert sich das Spielen auf die Konsole… Büsch: Ja, aber da muss man fairerweise sagen: Das ist aus der Sicht der Kinder eine sinnvolle Lösung, um soziale Kontakte zu haben. Da wird kommuniziert, sie unterhalten sich und spielen gemeinsam. Das ist ja ein Gewinn gerade für die, die gar nicht mehr in die Schule kommen.
Wie ist das mit Kindern, die noch in der frühen Bewegungsentwicklung sind und nun ein Jahr verpassen? Kann man das irgendwie wieder aufholen? Büsch: Das Gute ist: Die alte Daumenregel „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“trifft offensichtlich nicht zu, wie die Forschung belegt. Man kann auch später noch Dinge erlernen, auch im hohen Alter. Aber später bedeutet in vielen Fällen, dass immer mehr dazukommt, und dann kommt man nicht hinterher. Oder man muss mehr Aufwand betreiben, und es dauert länger.