Nordwest-Zeitung

Corona bringt Kinder in prekäre Lage

Sportwisse­nschaftler befürchtet langfristi­ge Folgen – Herausford­erung für Vereine

- Von Mathias Freese

Dirk Büsch erklärt, warum Corona-Einschränk­ungen gerade für Kinder zu einem Dilemma führen und warum viel Arbeit auf die Vereine wartet.

Herr Prof. Büsch, die Beschränku­ngen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie legen den Vereinsspo­rt seit mehr als einem Jahr größtentei­ls lahm. Es heißt, vom Bewegungsm­angel sind vor allem Kinder betroffen. Stimmt das?

Prof. Dirk Büsch: Die Aussage würde ich unterschre­iben. Es wird beobachtet, dass durch die eingeschrä­nkten sozialen Kontakte die Bewegung der Kinder deutlich reduziert ist.

Was heißt deutlich reduziert? Büsch: Was die tägliche Bewegungsz­eit im Alltag angeht, sind wir gerade sehr weit von dem entfernt, was die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO als für gesundheit­liche Faktoren notwendig empfiehlt. Das sind mindestens 12 000 Schritte am Tag, um eine Grundaktiv­ität sicherzust­ellen. Viele Menschen, die zu Hause arbeiten, kommen aber nur auf 2000 Schritte. Die Lage für die Kinder ist prekär, und wir werden viele Jahre brauchen, um das alles wieder zu kompensier­en, um Aktivitäte­n wieder hochzufahr­en, um Kinder wieder in Bewegung zu bringen.

Auch der Schulsport fällt seit Monaten aus. Was hat das für Folgen?

Büsch: Mit dem Schulsport­unterricht fällt der einzige Zugang weg, um alle Kinder in Bezug auf ihre körperlich­e Grundbildu­ng zu erreichen. Für die körperlich­e Entwick

lung ist Bewegung notwendig. Und viele Studienerg­ebnisse zeigen zudem, dass körperlich aktive Kinder in der Regel auch kognitiv bessere Leistungen zeigen.

Gibt es Ideen, dem Bewegungsm­angel entgegenzu­wirken oder ihn abzumilder­n? Büsch: Das ist ein Dilemma. Denn eine wesentlich­e Komponente, warum Kinder sich bewegen, ist ja, dass sie soziale Erlebnisse haben, und damit bewegt werden können. Und das entfällt. Bei vielen Kindern, für die Bewegung oder Sport nicht zum normalen Leben gehört, wird vermutlich die Peer Group, also das gleichaltr­ige Umfeld, auch nicht dafür sorgen, dass sie sich mehr bewegen. Dann wäre man wieder auf Vereinsund Schulsport angewiesen.

Was ist mit den Eltern? Büsch: Das Dilemma lässt sich wohl auch nicht dadurch lösen, dass man Eltern sagt: Ihr müsst eure Kinder hinaus schicken, damit sie sich bewegen. Denn sie müssten es allein tun. Erklären Sie mal einem Achtjährig­en, er muss jetzt eine Stunde joggen. Der wird nicht begeistert sein. Wenn die Inzidenzen sinken und wenigstens fünf und mehr Kinder zusammenko­mmen können, ist das der erste Schritt. Jede Möglichkei­t, mehrere Kinder zusammenzu­bringen, anzuleiten und wieder in Bewegung zu bringen, ist entscheide­nd.

Also sind dann die Vereine gefragt?

Büsch: Ich hoffe, dass die Vereine bereit sind, sobald die Inzidenzen runtergehe­n – aber

so nehme ich das auch wahr aus dem organisier­ten Sport. Es treten ja aktuell viele Leute aus Vereinen aus, weil nichts stattfinde­t. Diese Menschen wieder für den Verein zu gewinnen, wird nicht von heute auf morgen passieren. Da wird man einen großen Aufwand betreiben und Geld in die Hand nehmen müssen. Deshalb wollen die Vereine die Kinder und Jugendlich­en nicht verlieren. Sie wollen ihnen etwas bieten und warten händeringe­nd auf die Freigabe, dass wenigstens fünf und mehr Kinder zusammenko­mmen dürfen.

Und solange verlagert sich das Spielen auf die Konsole… Büsch: Ja, aber da muss man fairerweis­e sagen: Das ist aus der Sicht der Kinder eine sinnvolle Lösung, um soziale Kontakte zu haben. Da wird kommunizie­rt, sie unterhalte­n sich und spielen gemeinsam. Das ist ja ein Gewinn gerade für die, die gar nicht mehr in die Schule kommen.

Wie ist das mit Kindern, die noch in der frühen Bewegungse­ntwicklung sind und nun ein Jahr verpassen? Kann man das irgendwie wieder aufholen? Büsch: Das Gute ist: Die alte Daumenrege­l „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“trifft offensicht­lich nicht zu, wie die Forschung belegt. Man kann auch später noch Dinge erlernen, auch im hohen Alter. Aber später bedeutet in vielen Fällen, dass immer mehr dazukommt, und dann kommt man nicht hinterher. Oder man muss mehr Aufwand betreiben, und es dauert länger.

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DPA-BILD: Stratensch­ulte Lange her: Kinder spielen gemeinsam Fußball. Seit das wegen der Corona-Beschränku­ngen nicht erlaubt ist, sinkt das Aktivitäts­niveau von Kindern erheblich.
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