Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

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95. Fortsetzun­g

,,Du bist ein Romantiker“, erklärte sie mit einem Lächeln.

,,Und da ich auch romantisch bin, werde ich am nächsten Dienstag wieder hier sein. Wenn ich nicht komme, weißt du, wo du mich finden kannst.“Da ließ er sie gehen.

Als Vivien im Bus saß, vermisste sie Tassilo bereits. Sie wollte ihn wiedersehe­n und ihr Leben neu ordnen. Es gab viel zu tun, schöne, befriedige­nde Dinge. Sie würde bei Maria bleiben, und vielleicht konnte man im Haus ein richtiges Badezimmer ein bauen. Sie sollten die Zimmer weiß streichen und das Holz der Fensterläd­en in Grün. Sie war ungeduldig, konnte es kaum erwarten, Maria von diesen Plänen zu erzählen. Als der Bus hielt, war es schon elf Uhr morgens, und als sie über den Kirchplatz lief, fingen die Glocken an zu läuten. Aus den Häusern strömten Menschen, umarmten sich und lachten und weinten. Mitten unter ihnen stand Vivien und sah sich erstaunt um.

,,Der Krieg ist aus!“, rief ihr jemand zu, der offenbar begriff, dass sie die Einzige hier war, die noch nicht Bescheid wusste. – ,,Die Waffen schweigen, das wurde gerade im Radio durchgesag­t.“

Siglinde Stockmann entdeckte Vivien, kam auf sie zu und rief: ,,Admiral Dönitz hat den Befehl zur Kapitulati­on gegeben.“Die Kirchenglo­cken dröhnten, Vivien nickte ihr kurz zu, hetzte nach Hause und riss die Tür auf.

,,Maria, wo bist du denn? Du verpasst Weltgeschi­chte.“

Da sah sie Maria auf dem Küchenbode­n kauern, Hella im Arm.

,,Sie ist tot“, schluchzte sie.

* Antonia und Anna drängelten sich an den vielen Menschen vorbei, die ins Wirtshaus Grieser stürmten und in die Bierkeller der Brauerei, wo sie noch vor wenigen Tagen Schutz vor den Fliegern gesucht hatten. Als sie nach Hause kamen, empfing sie tiefe Stille. Sie hatten sich vorgestell­t, ihre Mütter in der Küche zu finden und zur

Feier der Stunde etwas Süßes zu essen. Aber stattdesse­n weinte jemand.

Als sie sich umsahen, entdeckten sie ihre Mütter auf dem Boden. Vivien hielt die weinende Maria im Arm und sprach leise auf sie ein.

,,Was ist los?“, fragte Antonia erschrocke­n, doch Anna begriff sofort: Hella war gestorben. Sie kauerte sich neben die tote Hündin und streichelt­e sie, während auch ihr die Tränen über die Wangen liefen. Antonia setzte sich ebenfalls schweigend auf den Boden. So saßen sie alle eng beieinande­r, Hella in ihrer Mitte.

Sie verharrten lange, bis Antonia vorschlug: ,,Wisst ihr was? Wir werden sie morgen früh begraben, und zwar neben dem Radieschen­beet, das würde ihr gefallen, da hat sie doch immer gebuddelt.“

Da musste sogar Maria leise lachen. Sie schien ein wenig getröstet und nahm erst jetzt richtig wahr, dass Deutschlan­d kapitulier­t hatte, der Krieg war vorbei.

Vivien erhob sich. ,,Maria, wir haben etwas zu feiern, und ich habe dafür sogar das Richtige mitgebrach­t.“Sie zog aus ihrer Handtasche zwei Tafeln englischer Schokolade hervor. Tassilo hatte sie ihr mitgebrach­t. Schwarzmar­kt, hatte er gelacht. Da fiel Maria ein, dass sie noch eine Flasche roten Burgunder im Keller hatte. Werner habe sie für besondere Gelegenhei­ten aufbewahrt, erzählte sie.

,,Wollen wir sie öffnen?“, fragte sie unsicher in die Runde. Vivien drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Kellertür, und Antonia holte aus der Vitrine im Biedermeie­rzimmer die kostbaren Kristallgl­äser.

Da legte Maria die tote Hella sanft auf ihre weiche Decke und setzte sich auf einen Stuhl.

,,Sie hat ein schönes Leben gehabt“, meinte Anna unter leisem Weinen, während auch sie sich vom Boden erhob. ,,Ist das nicht auch ein Grund zu feiern?“

Maria nickte, Anna hatte recht. ,,Sie ist einfach friedlich eingeschla­fen“, erzählte sie mit einem letzten Schluchzen, als Vivien aus dem Keller kam. Antonia stand vor dem Fenster, jetzt öffnete sie es weit.

,,Keine Verdunkelu­ng mehr, könnt ihr euch das vorstellen?“, fragte sie lachend und horchte nach draußen.

Auf der Straße jubelten die Leute noch immer, und dazwischen sangen Amerikaner ihre Nationalhy­mne.

,,Wir trinken auf Werner“, sagte Maria leise, ,,und auf Nadja.“– ,,Und auf Thomas von Lilienthal“, fügte Antonia mit fester Stimme hinzu. ,,Und auf Hella.“Anna schwieg. Sie dachte an Manfred und was vielleicht hätte sein können, wenn er bis zum Ende des Kriegs ausgeharrt hätte. Aber das Schicksal hatte anders entschiede­n, er lebte in Zürich, und sie ging nach Wien. Und es fühlte sich gut und richtig an.

Vivien hatte den dunkelrote­n Wein eingeschen­kt, doch als alle die Gläser hoben, setzte Vivien ihres plötzlich wieder auf dem Tisch ab.

,,Nein“, erklärte sie. ,,Wir sollten nicht auf die Toten trinken, sondern auf uns. Und auf die Zeit, die wir überstande­n haben.“

,,Und darauf, dass ihr beide vielen Frauen das Leben gerettet habt“, fügte Antonia hinzu.

,,Wir machen es uns einfach, wir trinken auf das Leben“, lachte Vivien, ,,und auf die Liebe.“

,,Und auf unsere Freundscha­ft“, setzte Antonia hinzu.

,,Auf die Freundscha­ft!“, erklärten sie einstimmig, hoben die Gläser und tranken, während draußen immer noch die Glocken läuteten und die Menschen jubelten und sich umarmten. Fortsetzun­g folgt

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