Begehrte Spritzen der Freiheit
Annette Bruhns über Impfneid als mächtige Triebfeder
Ich bin gegen Corona geimpft. Darüber bin ich unendlich dankbar. Auch, weil ich fast bei der Terminsuche kapituliert hätte. Das Anmeldesystem fand tagelang keinen Slot für mich, obwohl ich mich Hunderte Male einloggte. Beim Durchhalten half mir ein beschämendes Gefühl: mein Impfneid. Wir Mitarbeiter der Obdachlosenhilfe sind alle impfberechtigt, doch meine Kollegen waren vor mir dran. Wenn die Kolleginnen vor einem geimpft werden, fühlt sich das anders an als bei den Eltern. Den Altvorderen gönnt man es von Herzen, bei allen anderen löst der Vorsprung Herzrasen aus.
Chance vertan
Und das ist gut so! Neid ist eine mächtige Triebfeder. Das wäre es doch gewesen, wenn die Bundeskanzlerin sich vor allen anderen den Schuss mit Biontech, Moderna oder Astrazeneca hätte setzen lassen. Vor laufenden Kameras. Und dazu verkündet hätte: „Und bald, wenn die Impfungen wirken, darf ich als freie Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland wieder tun, was ich will. Gäste bekochen, Freunde besuchen, shoppen.“
Wetten, dann wären alle mächtig neidisch geworden? Und wetten, das hätte viele Menschen angespornt, sich tatsächlich auch impfen zu lassen, sobald sie an der Reihe sind?
Statt uns Lust auf die Spritzen der Freiheit zu machen, haben uns die Regierenden monatelang hingehalten. Haben versucht, uns glauben zu machen, sie dürften uns noch als geimpfte Menschen einsperren. Ganz egal, wie gut die
mit ihren Kolleginnen wieder Pizza essen dürfen und geimpfte Rentner miteinander Skat spielen. Schlecht, dass die Einsicht in unser Recht so lange gedauert hat. Und eine Chance verpasst wurde. Denn hätte sich Angela Merkel wie Joe Biden öffentlich impfen lassen, wäre Hoffnung geweckt worden. Mut, es ihr gleich zu tun. Wäre die Kanzlerin mit gutem Beispiel vorangegangen, sähen wir jetzt alle, wie fit sie drei Monate nach der Impfung ist. Aber leider tat sie das nicht. Um keine Neidgefühle zu wecken.
Dabei leiden einige Menschen unter einem Gefühl, vor dem mir deutlich mehr bange ist als vor jedem Impfneid: nämlich unter Impfangst. Ich weiß sogar von Krankenschwestern, die sich nicht impfen lassen. Und lieber weiter ungeimpft krebskranken
Vakzine wirken würden: Die Geimpften sollten bittschön warten, bis alle an der Reihe waren. Falls nicht, drohe „eine Problematik von hoher gesellschaftlicher Sprengkraft“. So formulierte es Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil noch letzte Woche. Als sähe er den Impfneid schon in Aufruhr umschlagen. Was für ein verfassungsfeindlicher Kleingeist!
Gut, dass damit jetzt Schluss ist. Dass geimpfte Pflegekräfte
Patienten Kanülen legen. Müsste es nicht eine CoronaImpfpflicht für Pflegekräfte geben? Für Ärzte, Physiotherapeuten, Prostituierte und alle anderen Menschen mit körpernahen Tätigkeiten? Schließlich dürfen auch Lehrkräfte nur unterrichten, wenn sie gegen Masern geimpft sind.
Impfangst gefährlicher
Und wie hätte es die AfD wohl geärgert, wenn die Spritzen von Anfang an für Freiheit gestanden hätten? Auffälligerweise haben sich Alice Weidel und Alexander Gauland gegen Lockerungen für Geimpfte ausgesprochen. Vorgeblich deshalb, weil für alle alles gelockert werden solle. Der wahre Grund dürfte sein, dass den AfD-Strategen vor den Folgen graut. Nichts wird die Querdenker-Bewegung mehr schwächen als immer mehr Menschen, die sich frei bewegen können.
Ich habe keine Angst vor den Folgen meiner Impfung. Ich habe die Pille genommen, trotz der erhöhten Thrombosegefahr. Ich habe geraucht, bin ohne Schwimmweste gesegelt, allein im Hochgebirge geklettert. Risiken mit individuellen Folgen einzugehen ist Menschenrecht! Zumal das andere Risiko so viel größer ist: nie wieder frei leben zu dürfen. Nie wieder Partys zu feiern, gemeinsam zu singen oder zu reisen.