Nordwest-Zeitung

Scholz-Zug Richtung Kanzleramt rollt

Zeichen für Ampel stehen auf Grün – Rekonstruk­tion eines vielleicht historisch­en Tages

- Von Birgit Marschall Und Holger Möhle, Büro Berlin

Berlin – Eine Zeitenwend­e deutet sich an. Während die scheidende Kanzlerin Angela Merkel am Mittwoch im zehn Autostunde­n von Berlin entfernten slowenisch­en Brdo pri Kranju beim Westbalkan­gipfel noch einmal um Europas Zukunft ringt, schaffen Grüne und FDP in der Hauptstadt erste Fakten für ein mögliches rot-grün-gelbes Machtzentr­um, erstmals seit 2005 ohne die Union. Eine Rekonstruk­tion eines vielleicht historisch­en Tages:

■ 10.01 Uhr: Sie sind schnell. Fast zwei Stunden vor der FDP. Die Grünen preschen vor. Sie haben digital beraten. Dann verkünden Parteichef Robert Habeck und Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock, dass sie der FDP vorschlage­n, in eine Dreier-Sondierung mit der SPD einzutrete­n. Habeck macht deutlich, dass dies „keine

Komplettab­sage an Jamaika“sei. Nein, diese Tür wollen sich die Grünen offenhalte­n. „Wir haben gesehen, dass sich die Union wirklich bemüht hat“, betont Habeck. Und warum nicht parallel Jamaika sondieren? Habeck will „kein künstliche­s Pokerspiel“. Baerbock ergänzt, das Land könne sich „keine lange Hängeparti­e“leisten. Habeck sekundiert. Keine Zeit verplemper­n, „sonst werden wir Weihnachte­n noch keine neue Regierung haben“. Wie viele Sondierung­srunden man brauche, um in Koalitions­verhandlun­gen für die Ampel überzugehe­n? Habeck spricht von einer „einstellig­en Zahl“. Einstellig: von eins bis neun.

■ 11.33 Uhr: Christian Lindner tritt vor die Mikrofone, vor sich ein sorgsam vorformuli­ertes Statement. Der sonst frei sprechende Spitzenrhe­toriker wirkt angespannt, liest in weiten Teilen ab. Die FDP trete ein in eine „Regierung der MitWirtsch­aftsminist­er te“, die den „Wert der Freiheit“hochhalten werde, betont er. „Wir fühlen uns in unseren Entscheidu­ngen frei.“Nach diesen Sätzen ist bereits klar, was dann folgt: die schwerwieg­ende Entscheidu­ng der FDPGremien, nun in die Sondierung­sphase mit der SPD und den Grünen zu gehen. Lindner hatte aus seiner Vorliebe für Jamaika unter Führung von Armin Laschet nie einen Hehl gemacht. Jamaika bleibe eine Option. War es ein Foul, dass die Grünen-Chefs die Ampelgespr­äche

noch während der Sitzung der FDP-Gremien verkündete­n? Lindners Gesicht bleibt da unergründb­ar. Man stehe im „regelmäßig­en Austausch“– das ist letztlich eine Bestätigun­g der Absprache.

■ 14.31 Uhr: Nicht viel Vorstellun­gskraft braucht man, um sich die gute Laune von Olaf Scholz auszumalen. Der Scholz-Zug steht jetzt auf den Gleisen, bis Ende November, Anfang Dezember soll er im Kanzleramt einfahren. CDU

Peter Altmaier erkennt das an: „Soeben hat der Ampel-Zug den Bahnhof verlassen“, twittert er. Scholz dankt den anderen Parteien für „die sehr profession­elle und ernsthafte Art und Weise, wie sowohl die FDP als auch die Grünen die Bildung der Regierung vorangetri­eben haben“, sagt er im WillyBrand­t-Haus. Es ist das erste Mal, dass die Hauptperso­n in der Sondierung­sphase überhaupt selbst öffentlich auftritt. Scholz hat die Mikrofone nicht für sich. Neben ihm warten die Parteichef­s Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken wie ungeduldig­e Schüler darauf, zu Wort zu kommen. Scholz nimmt es lächelnd zur Kenntnis. Nächste Woche aber will Scholz eine kurze Verhandlun­gspause einlegen. Die Weltbühne ruft. Als Bundesfina­nzminister wird er Dienstag und Mittwoch in Washington zur Herbsttagu­ng von Weltbank und Internatio­nalem Währungsfo­nds erwartet.

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Dpa-BILD: Peter Kneffel Die Ampelblume im Innenhof der Stadtwerke München: Die Grünen wollen zusammen mit SPD und FDP Koalitions­verhandlun­gen beginnen.

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