WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
127. Fortsetzung
Corinth hätte er sich hingehängt. Zumindest ein Bild von ihm. Als die Freunde das erste Mal zur Planung zusammentrafen und Leo als Namen für das Restaurant Max und Moritz vorschlug, erwiderte Kelmi: ,,Su- sanna im Bade. Ich fürchte, darüber gibt es mit mir keine Diskussion.“
Anfangs hatte Ewald, der auf die Dekadenz römischer Fresken stand, den neuen Ansatz wenig inspirierend gefunden, doch während der Monate, in denen die Restaurierungsarbeiten sich in die Länge zogen und Kelmi bei einer Bank nach der andern um einen Kredit kämpfte, waren ihm Ideen gekommen. Als der einstige Galerieraum schließlich nutzbar war, hatte er ihn mit seinen leuchtenden Bildern entblößter, intim mit sich selbst beschäftigter Schönheiten in etwas zwischen Boudoir und Badehaus verwandelt, das Kelmi unwiderstehlich fand.
Er selbst war – von Michaela
unterstützt – mit der Erstellung des gastronomischen Konzepts beschäftigt. Kochen wollte er, wie er sein Leben lang gekocht hatte: Nicht an eine Cuisine gebunden, sondern frei und wild darauf, sich aus den kulinarischen Traditionen sämtlicher Kulturen anzueignen, was ihm gefiel.
Ewald protestierte, ihm war das Konzept nicht politisch genug. Kelmi aber gelang es, ihm zu vermitteln, dass es etwas von dem Berlin hatte, das sie verloren hatten, ohne es je wirklich erlebt zu haben, von den offenen Toren, in die wahllos aus allen Himmels- richtungen Einflüsse strömten und die Struktur der Stadt reich machten, zu einer Palette mit unbeschränkter Auswahl.
,,Das ist so rückwärtsgewandt.“
,,Es ist nostalgisch. Aber die Küche, die Michaela und ich daraus kreieren, ist modern, jung und gewagt, ein Abenteuer, in das man sich stürzt, wenn man mit solcher Vielfalt vor der eigenen Haustür lebt und dafür offen ist, dem Fremsie den nicht mit Furcht, sondern mit Neugier begegnet. Dass wir als junge Berliner Unternehmer darin unsere Zukunft sehen, ist unsere politische Aussage, gerade weil sie keine ist.“
Kelmi war sich nicht sicher, ob Ewald damit zufrieden war, aber wie sie alle brauchte er Geld, und die Zusammenarbeit in ihrem Kreis machte Spaß. Im Hochsommer 54 eröffnete das Susanna im Bade seine Tore. Mit seinen begrenzten Mitteln hatte Kelmi nur die Räume restaurieren lassen, die er brauchte, und der Prunk inmitten von Verfall, der strahlende Glanz aus Kristallleuchtern neben blind geschwärzten Scheiben machte einen Teil des Charmes aus. Auf der Speisekarte, die er nach Saison, Gelegenheit und Laune wechselte, gesellten sich deftige russische Suppen zu mediterraner Fülle entlehnten Vorspeisen, Hauptgerichte, die asiatischen Würzzauber französisch verschlankten, zu orientalischen Desserts, kombiniert mit einheimischen Früchten und scharfem Käse aus den Ardennen.
Hinzu kam Luis’ Musik. Ein bisschen Flamenco, ein bisschen Klezmer, ein bisschen revolutionärer Marschgesang und das ein oder andere schmachtende Liebeslied zwischen Fado, Tango und Jazz. Da Luis sich für alles begeisterte, aber nichts richtig konnte, entstand eine Mischung, die ganz seine eigene war und zu den Düften aus der stets geöffneten Küche passte.
Die Menschen, die sich von dieser Mischung herbeilocken ließen, waren ähnlich: neugierig, begeisterungsfähig, ganz
selbst. Ohne Übertreibung ließ sich sagen, dass das Susanna praktisch über Nacht zu einem Erfolg wurde. An den Krediten würde Kelmi noch Jahre abzahlen, und an Zutaten sparte er nicht, doch es bestand kein Zweifel daran, dass das Restaurant sich halten würde, dass seine Vision Wirklichkeit geworden war.
Den Dachstuhl hatte er zur Hälfte restaurieren lassen, sich mithilfe seiner Freunde ein Zimmer hergerichtet und den verfallenen Teil gesichert und bepflanzt. Eine Dachterrasse in Ruinen.
,,Ziemlich atemberaubend für einen Kerl, der so harmlos daherkommt wie du“, hatte Michaela gesagt.
Jetzt blätterte sie abwechselnd in ihrer Illustrierten und einem der Prospekte, die sie sich aus dem Reisebüro besorgt hatte. Alle Welt träumte derzeit von Urlaub in Italien, und Michaela war entschlossen, sich den Traum in diesem Sommer zu erfüllen. Ihr Teilzeit-Fleischer war verheiratet und reiste mit der Familie an den Bodensee, also hatte sie versucht, stattdessen Kelmi zum Mitfahren zu überreden. ,,Das kulinarische Paradies. Zurück nach Hause rolle ich dich. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du da nicht hinwillst?“
Das wollte Kelmi durchaus irgendwann, aber nicht jetzt, nicht mit Micha, der er nur die Chancen auf einen Urlaubsflirt vermasseln würde. Für den Augenblick war er zufrieden mit seinen Reisen am Herd, und außerdem wollte er das Susanna nicht mitten im Sommer zwei Wochen lang schließen müssen. Warum er so erdenschwer an seiner Scholle klebte, wusste er selbst nicht. Früher hatte er sich leicht gefühlt, an keinen Ort gebunden, doch mit der Existenzgründung kam vielleicht Bodenständigkeit.
,,Umbrien“, murmelte Michaela. ,,Schon mal gehört? Die Orte sehen entzückend aus mit all diesen kleinen Geschäften.“