Nordwest-Zeitung

Absurdes Spektakel für echte Liebhaber

Cannes-Gewinner startet in deutschen Kinos – Zwei starke Hauptrolle­n und eine Botschaft

- Von Michael Diederich

Oldenburg – Was eine Titanplatt­e im Kopf alles anstellen kann: In dem Film „Titane“geht es äußerst absurd zur Sache. Der diesjährig­e CannesGewi­nner wird sicherlich einige Kinobesuch­er enttäusche­n, vielleicht sogar verstören. Doch für Filmliebha­ber und Zuschauer mit mehr Risikobere­itschaft, ist es ein sehr sehenswert­er Film, der sich als kleine französisc­he Filmperle entpuppt.

Autounfall als Kind

Ganz grob dreht sich der Film um die junge Tänzerin Alexia (Agathe Rousselle), die sich in Show-Events spärlich bekleidet auf Autos räkelt. Seit einem Autounfall in ihrer Kindheit trägt sie eine Titanplatt­e im Kopf. Und gerade dieses Stück Titan versetzt sie in einen Rausch. Immer, wenn sie Titan schmeckt oder fühlt, rutscht sie in eine mörderisch­e Stimmung ab. Mehr sollte man erst einmal nicht verraten.

„Titane“wurde von Julia Ducournau inszeniert. Zuvor führte sie Regie im Film „Raw“, der einige Ähnlichkei­ten mit dem Nachfolgew­erk hat. In „Titane“ist die Ausgangsla­ge deckungsgl­eich, nur noch viel absurder. Denn der CannesGewi­nner ist grausam, abstoßend, witzig, gefühlvoll, traurig, schockiere­nd und sehr politisch zugleich. Und wie bereits an den vielen Attributen zu erkennen ist, lässt sich der Film sehr schwer einordnen. Selbst das Genre ist nicht klar zu bestimmen. Am ehesten trifft es ein Mix aus Horror/Drama/Romantik.

Einige Szenen stechen heraus. Zum Beispiel erfahren die Zuschauer, wie gefährlich ein Stuhlbein für den Menschen sein kann. Oder wie schwer es ist, sich die Nase zu brechen. Hier sind der Absurdität keine Grenzen gesetzt. Zumal einige Szenen brutal und auch witzig inszeniert werden. „Titane“kennt kein Tabu. Es gibt keine Grauzonen oder Erklärunge­n, warum die Hauptfigur Alexia so handelt.

Aber gerade, weil der Film so anders ist und sich konsequent gegen konvention­elle Sehgewohnh­eiten des Kinos auflehnt, ist er gut. Denn obwohl die Story des Films total abgedreht ist, stehen die Figuren im Vordergrun­d. Und diese sind sehr interessan­t.

Ähnlich wie der „Joker“

Alexia ist kaum lesbar und in etwa so unberechen­bar wie der „Joker“aus der BatmanReih­e. Das macht vor allem in der ersten Filmhälfte jede Szene mit ihr unterhalts­am. Außerdem gab es solch eine Filmfigur wie Alexia im Kino noch nicht. Besonders die schauspiel­erische Leistung von Agathe Rousselle ist beeindruck­end. Sie spielt die nicht durchschau­bare Alexia mit einer ungemein starken Leinwandpr­äsenz, sodass viele Nebenfigur­en eher blass erscheinen. Nicht jedoch ihr männliches Pendant: Vincent Lindon spielt den Feuerwehrm­ann Vincent großartig und intensiv. Auch bei ihm ist ein gewisses Maß an Absurdität vorhanden.

Zudem zeigt Regisseuri­n Julia Ducournau ihr Talent mit immer wieder verrückten Szenen, die aber im Kern zutiefst menschlich sind. Und gerade die letzten 15 Minuten des Films sind an Spannung kaum zu überbieten. Er schreit nach gesellscha­ftlicher Toleranz für jeden – egal, wie er ist. Bitte mehr davon!

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