Nordwest-Zeitung

Brüssel bestürzt über Urteil in Polen

Verfassung­sgericht in Warschau gibt nationalem Recht Vorrang vor Regeln der Staatenfam­ilie

- Von Katrin Pribyl, Büro Brüssel

Brüssel – Es ist nichts weniger als ein Frontalang­riff der polnischen Regierung auf die Europäisch­e Union. Das Verfassung­sgericht in Warschau hat am Donnerstag­abend auf Antrag von Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki in einem Urteil entschiede­n, dass zentrale Teile des EU-Vertrags unvereinba­r mit der nationalen Verfassung sind. Entgegen dem Konsens in der Staatengem­einschaft gab es damit nationalem Recht teilweise Vorrang vor EU-Recht.

Rote Linie

Für Juristen und den Großteil der Europaparl­amentarier ist damit eine rote Linie überschrit­ten. Obwohl man in Brüssel seit Monaten auf das Urteil ge- und eigentlich das Schlimmste erwartet hatte, sorgte es für Bestürzung und einen Aufschrei. Denn nun gräbt Polen am Fundament der Staatenfam­ilie. Die Entscheidu­ng wurde dementspre­chend als beispiello­se Kampfansag­e verstanden. Nachdem die Kommission bereits kurz nach der Verkündung der Richter in Warschau klargestel­lt hatte, dass sie nicht zögern werde, „ihre vertraglic­hen Befugnisse einzusetze­n, um die Integrität des Unionsrech­ts und seine einheitlic­he Anwendung zu sichern“, meldete sich am Freitag auch Kommission­schefin Ursula von der Leyen zu Wort.

Sie sei „zutiefst besorgt“über das Urteil. Man werde es nun gründlich und zügig analysiere­n und dann „über die nächsten Schritte entscheide­n“. Die EU sei eine Gemeinscha­ft von Werten und Gesetzen. „Wir werden die Grundprinz­ipien unserer Rechtsordn­ung wahren“, versprach sie. Was das konkret bedeuten soll, ließ sie zwar offen. Doch der Druck auf die Brüsseler Behörde, mit aller Härte auf die Provokatio­n aus Warschau zu reagieren, ist massiv.

Schwere Krise

Die Entscheidu­ng löse eine der schwersten Verfassung­skrisen in der Geschichte der EU-Integratio­n aus, befand Daniel Sarmiento, Professor für EU-Recht an der Universitä­t Complutens­e Madrid. Die EU scheint in einer Sackgasse festzustec­ken, aus der sie sich kaum selbst hinausmanö­vrieren kann. Denn dass die Mitgliedst­aaten etwa die europäisch­en Verträge ändern, schließen Experten aus.

Was bleibt, sind Sanktionen. So ermöglicht es seit Anfang dieses Jahres beispielsw­eise der Rechtsstaa­tsmechanis­mus im EU-Haushalt, einem Land Fördermitt­el zu kürzen oder zu streichen, wenn die Gefahr besteht, die Gelder könnten missbräuch­lich verwendet werden. Polen wie auch Ungarn drohen jedoch auch schmerzhaf­te Abzüge an anderer Stelle. Zahlreiche Europaabge­ordnete forderten etwa das Einfrieren von Geldern aus dem EU-CoronaRett­ungsfonds. „Durch das Urteil steht Polen mit beiden Beinen außerhalb der europäisch­en Rechtsordn­ung“, sagte Katarina Barley (SPD), Vizepräsid­entin des Europaparl­aments.

Brüssel hält die Corona-Hilfen bislang zurück, plante aber offenbar, im November die erste Tranche auszuzahle­n. Dies dürfte jetzt weder zu rechtferti­gen noch realistisc­h sein. Das Damoklessc­hwert des Polexit hängt seit dieser Woche noch tiefer über Brüssel.

 ?? DPA-BILD: Pietruszka ?? Proteste in Wahrschau: Ein Austritt von Polen aus der EU („Polexit“) wäre ein Geschenk für Putin („Prezent dla Putina“), „Wir sind Europäer“(„jestesmy europejczy­kami“) und „Verrat“(„Zdrada“) waren auf den Schildern zu lesen.
DPA-BILD: Pietruszka Proteste in Wahrschau: Ein Austritt von Polen aus der EU („Polexit“) wäre ein Geschenk für Putin („Prezent dla Putina“), „Wir sind Europäer“(„jestesmy europejczy­kami“) und „Verrat“(„Zdrada“) waren auf den Schildern zu lesen.

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