Brüssel bestürzt über Urteil in Polen
Verfassungsgericht in Warschau gibt nationalem Recht Vorrang vor Regeln der Staatenfamilie
Brüssel – Es ist nichts weniger als ein Frontalangriff der polnischen Regierung auf die Europäische Union. Das Verfassungsgericht in Warschau hat am Donnerstagabend auf Antrag von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in einem Urteil entschieden, dass zentrale Teile des EU-Vertrags unvereinbar mit der nationalen Verfassung sind. Entgegen dem Konsens in der Staatengemeinschaft gab es damit nationalem Recht teilweise Vorrang vor EU-Recht.
Rote Linie
Für Juristen und den Großteil der Europaparlamentarier ist damit eine rote Linie überschritten. Obwohl man in Brüssel seit Monaten auf das Urteil ge- und eigentlich das Schlimmste erwartet hatte, sorgte es für Bestürzung und einen Aufschrei. Denn nun gräbt Polen am Fundament der Staatenfamilie. Die Entscheidung wurde dementsprechend als beispiellose Kampfansage verstanden. Nachdem die Kommission bereits kurz nach der Verkündung der Richter in Warschau klargestellt hatte, dass sie nicht zögern werde, „ihre vertraglichen Befugnisse einzusetzen, um die Integrität des Unionsrechts und seine einheitliche Anwendung zu sichern“, meldete sich am Freitag auch Kommissionschefin Ursula von der Leyen zu Wort.
Sie sei „zutiefst besorgt“über das Urteil. Man werde es nun gründlich und zügig analysieren und dann „über die nächsten Schritte entscheiden“. Die EU sei eine Gemeinschaft von Werten und Gesetzen. „Wir werden die Grundprinzipien unserer Rechtsordnung wahren“, versprach sie. Was das konkret bedeuten soll, ließ sie zwar offen. Doch der Druck auf die Brüsseler Behörde, mit aller Härte auf die Provokation aus Warschau zu reagieren, ist massiv.
Schwere Krise
Die Entscheidung löse eine der schwersten Verfassungskrisen in der Geschichte der EU-Integration aus, befand Daniel Sarmiento, Professor für EU-Recht an der Universität Complutense Madrid. Die EU scheint in einer Sackgasse festzustecken, aus der sie sich kaum selbst hinausmanövrieren kann. Denn dass die Mitgliedstaaten etwa die europäischen Verträge ändern, schließen Experten aus.
Was bleibt, sind Sanktionen. So ermöglicht es seit Anfang dieses Jahres beispielsweise der Rechtsstaatsmechanismus im EU-Haushalt, einem Land Fördermittel zu kürzen oder zu streichen, wenn die Gefahr besteht, die Gelder könnten missbräuchlich verwendet werden. Polen wie auch Ungarn drohen jedoch auch schmerzhafte Abzüge an anderer Stelle. Zahlreiche Europaabgeordnete forderten etwa das Einfrieren von Geldern aus dem EU-CoronaRettungsfonds. „Durch das Urteil steht Polen mit beiden Beinen außerhalb der europäischen Rechtsordnung“, sagte Katarina Barley (SPD), Vizepräsidentin des Europaparlaments.
Brüssel hält die Corona-Hilfen bislang zurück, plante aber offenbar, im November die erste Tranche auszuzahlen. Dies dürfte jetzt weder zu rechtfertigen noch realistisch sein. Das Damoklesschwert des Polexit hängt seit dieser Woche noch tiefer über Brüssel.