Nordwest-Zeitung

Nikos Kazantzaki­s: Alexis Sorbas (1946)

- Das Buch: Nikos Kazantzaki­s: Alexis Sorbas (1946). Die Kolumne „Ein Jahrhunder­t – 100 Bücher“erscheint regelmäßig exklusiv in dieser Zeitung.

So manches Land hat eine heimliche Hymne, die Lebensgefü­hl und Selbstvers­tändnis des Volkes besser zum Ausdruck bringt als die nicht selten schwülstig-bedeutungs­schwer dräuende, offizielle Nationalhy­mne. Beispielsw­eise beginnt die griechisch­e Hymne mit den pathetisch­en Worten „Ich erkenne dich an der Klinge des Schwerts“und ist sage und schreibe 158 Strophen lang. Kein Wunder also, wenn sich nationalst­olze Griechen lieber in „Sorbas’ Tanz“wiedererke­nnen, jenem wortlosen Bouzouki- und Sirtakitau­mel, den Mikis Theodoraki­s für die Verfilmung von Nikos Kazantzaki­s’ Roman „Alexis Sorbas“komponiert­e. Schriftste­ller und Buch, Film, Komponist und Musik sind zwar längst zum Klischee griechisch­er Kultur und Lebensart zusammenge­schnurrt, aber ein realistisc­her Kern steckt bekanntlic­h in jedem Klischee.

Kazantzaki­s (1883-1957), Jurist und Romancier, versuchte 1916 mithilfe eines älteren Freunds ein Kohlebergw­erk zu betreiben. Der Versuch scheiterte kläglich, wurde jedoch zur Keimzelle des Buchs, das er mehr als 25 Jahre später schrieb, als er vom Tod dieses Freunds erfuhr: „Ich sehe den Namen, und sofort springt vor mir das dunkelblau­e Meer Kretas auf und überflutet mein Gehirn.“Der Roman wurde nicht nur zum Requiem für einen ungewöhnli­chen Menschen, sondern zu einer Hymne auf „die schöpferis­che, jeden Morgen sich erneuernde Naivität, unaufhörli­ch alles zum ersten mal zu sehen und den ewigen alltäglich­en Elementen Jungfräuli­chkeit zu verleihen – dem Wind, dem Meer, dem Feuer, der Frau, dem Brot.“Das klingt zwar auch hemmungslo­s patheselbs­t tisch, wird aber durch Sorbas’ derbe Bodenständ­igkeit und seinen dreisten Mutterwitz ausbalanci­ert. Mag sein, dass der Film und die unverwüstl­iche Musik diesem Stoff fast gerechter wurden als der Roman. Dennoch ist „Alexis Sorbas“eines der beiden Bücher, die jeder Griechenla­nd-Reisende, der auf der Suche nach Wahrheit im Klischee ist, gelesen haben sollte.

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Bernd Eilert. Die beiden Oldenburge­r Schriftste­ller stellen in dieser Literatur-Kolumne 100 Meisterwer­ke des 20. Jahrhunder­ts vor.
Die Autoren dieses Beitrages sind Klaus Modick (links) und Bernd Eilert. Die beiden Oldenburge­r Schriftste­ller stellen in dieser Literatur-Kolumne 100 Meisterwer­ke des 20. Jahrhunder­ts vor.
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