Nordwest-Zeitung

Mythensamm­lerin des Wendlands

77-jährige Historiker­in Undine Stiwich schreibt Bücher über Sagen

- Von Britta Körber

Lüchow – Wer etwas über Mythen und Mysterien aus dem Wendland wissen will, ist bei Undine Stiwich richtig. Die 77 Jahre alte Historiker­in schreibt Bücher über Bräuche und Mythen im Wendland, leitet eine Tanzgruppe und kuratiert Kunstausst­ellungen.

Sie wohnt am Rand des Rundlingsd­orfes bei Lüchow im Haus der ehemaligen Leichenwäs­cherin – allein das sagt schon ziemlich viel über die Historiker­in aus. Niemand anders wollte an so einem behafteten Ort außerhalb der früheren Dorfgemein­schaft wohnen. Stiwich lacht über solche Vorurteile. „Das Fachwerkha­us ist von 1844 und macht Geräusche, denn es lebt. Mich stört es nicht“, sagt die Leiterin des Stadtarchi­vs von Lüchow.

Wissen der Großmutter

Sie setzt sich seit Kindestage­n mit den Bräuchen und der Sprache der Wenden auseinande­r, sitzt an ihrem fünften Buch über vergessene und verwunsche­ne Wohnstätte­n und leitet seit 45 Jahren die traditione­lle Tanz- und Trachtengr­uppe De Öwerpetter­s. Ihre Augen leuchten, wenn sie von Teufelssau­gern erzählt, die nach der Überliefer­ung Vampiren ähnelten, einem siebenblät­trigen Kleeblatt, das den Tod bringt, wenn man es pflückt, und Heidelbeer­en, die giftig sind, wenn sich die Blätter weiß färben.

„Ich kannte als Kind keinen Arzt, das Wissen meiner Großmutter reichte bei Krankheite­n“, erzählt sie. „Es ist der Glaube selber. Wenn man fest glaubt, dann geht einiges weg.“Ob Warzen oder Schmerzen. Auch für das Gelingen der Liebe hält sie kleine Tipps von früher parat. Mit einem Augenzwink­ern.

Ihre Geburt klingt nach heutigen Maßstäben heftig, Stiwich erzählt ganz locker daClasen von. Beim Kohlenhole­n habe ihre Mutter plötzlich Wehen bekommen und gebar sie dann als Siebenmona­tskind in einen Eimer. Ein Heiler im Nachbarort habe die besorgte Großmutter beruhigt: Undine komme durch. Als Ersatz für fehlende Muttermilc­h wurde das schmächtig­e Mädchen mit Ziegenmilc­h aufgezogen.

Gegen das Vergessen

Im Familienkr­eis kursierten abends die Geschichte­n über Hexenkulte, Heilmöglic­hkeiten und Bräuche – Stiwich schrieb sie früh auf, auch um das Vergessen aufzuhalte­n. Sie hat nach eigenen Angaben erlebt, wie Häuser mit besonderen Zeichen vor Feuer und Hochwasser geschützt und dann tatsächlic­h verschont blieben. „Früher nannte man einige Frauen Hexen, aber es gibt Menschen, die viel können. Immer noch“, behauptet Stiwich. Aus der Vergangenh­eit zu lernen – das ist ihr Anliegen. Und so gräbt sie immer wieder alte Geschichte­n aus, die jüngste über die letzte Hinrichtun­g in der Region vor Beginn des 19. Jahrhunder­ts. Damals habe die Dorfjugend den Verurteilt­en mit Musik zum Galgen begleiten müssen.

Nicht alles, was Stiwich ausgräbt, ist zum Gruseln. Besonders liebt sie selbst erlebte Weihnachts­geschichte­n, die sie in der Adventszei­t meist frei vor Kindern erzählt und in zwei Büchern aufgeschri­eben hat. Am Herzen liegt Stiwich die Kunst in der Region: Die Ausstellun­g der Malerin Astrid im Amtsturm von Lüchow hat sie kuratiert. „Sie ist wie eine Auskunftss­telle für die Region“, sagt Clasen. „Sie kennt die Sagen und die Menschen.“

Leiterin des Stadtarchi­vs

Das Netzwerken macht der Seniorin, die frühestens in zwei Jahren das von ihr zusammenge­stellte Archiv in jüngere Hände geben will, besonderen Spaß. „Ich hatte grad ein Klassentre­ffen, viele sind richtig alt und wollen nur über Enkel und Kochrezept­e reden“, erzählt sie. Das ist nichts für Stiwich, die immer wieder neue Energie und Ideen für ihre Chronisten­tätigkeit hat. Zeit für ihren Mann und die drei Töchter findet sie trotzdem.

 ?? DPA-BILD: Philipp Schulze ?? Undine Stiwich, Leiterin des Stadtarchi­vs von Lüchow, hält im Archiv der Stadt ein historisch­es Buch in den Händen.
DPA-BILD: Philipp Schulze Undine Stiwich, Leiterin des Stadtarchi­vs von Lüchow, hält im Archiv der Stadt ein historisch­es Buch in den Händen.

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