WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
129. Fortsetzung
Das Bild war unscharf, körnig, durch Vergrößerung wie verwaschen, aber das Mädchen hatte Kelmi schon durch strömenden Regen, Schneetreiben, Nebel, wütende Menschenmassen und über eine unsichtbare Grenze hinweg erkannt.
Er würde sie immer erkennen, egal, unter welchen Umständen, das begriff er, während er das verschwommene Foto betrachtete. Er würde sie immer erkennen, weil sein Herz beschlossen hatte, dass sie sein Mädchen war. Was immer sie beschlossen hatte. Was immer das Leben beschlossen hatte. Was immer ein Mensch namens Eugen Terbruggen, was Walter Ulbricht, Konrad Adenauer, Nikita Chruschtschow und Dwight Eisenhower beschlossen hatten, seinem Herzen war das egal. Es konnte sich nicht einmal die vielen Namen merken.
Das Mädchen auf dem Bild war Susanne Engel, die sich selbst Sanne nannte und die er Susu genannt hatte, die er Susu nennen würde, bis er niemanden mehr irgendwie nannte. Ihr Haar war nass, das sah er trotz der schlechten Bildqualität und wollte es trocken reiben, wollte ihren Kopf an seine Brust ziehen und mit seinen beiden Händen über ihr Haar streichen, bis es getrocknet war. Ihr Blick ließ sich auf der miesen Aufnahme nicht erkennen, und trotzdem glaubte er, ihn auf sich zu fühlen, diesen hoch konzentrierten, von Argwohn erfüllten, sich keine Sekunde lang Freiheit gewährenden Blick.
In der rechten oberen Ecke des Titelblattes war wie angeklemmt eine Art Passfoto aufgedruckt. Es zeigte einen Mann mit dunklem Haar, schmalem Gesicht und runder Brille. Kelmis Herz vollführte einen weiteren Satz. Der Mann auf dem Bild sah so sehr aus wie Susu, dass er beinahe aufgelacht hätte. Das dichte Haar, der Ernst, die in Falten gezogene Stirn, das alles war gleich. Ilona Konya, die Mutter, der er in ihrer Wohnung begegnet war, hatte ihrer Tochter den Schmelz ihrer Lieblichkeit mitgegeben, dem weder die Ausuferungen des Körpers noch der Zahn der Zeit etwas anhaben konnten. Alles andere aber hatte Susu ohne jeden Zweifel von diesem Mann ererbt. Von ihrem Vater.
Unter der Collage prangte in grellen Lettern eine Schlagzeile:
,,Volker Engel und Konsorten – die hausgemachten Widerstandskämpfer der DDR“.
33
,,Wieso liest du eigentlich so was?“, hatte er Michaela angefahren. ,,Mein Nazi-Piratenbuch ist schlimm genug, und ich bring’s morgen in die Bibliothek zurück und nehme nie wieder eines mit. Aber von dir habe ich gedacht, du bist die Verkörperung der modernen, selbstständig denkenden Frau, die keine Klatschblätter anfasst, geschweige denn das, was darin abgedruckt steht, für bare Münze nimmt.“
Der Artikel war kurz. In diesen Zeitschriften waren Artikel immer kurz, weil ihre Käufer die Blätter als eine Art Bilderbuch für Erwachsene betrachteten und sich mit langen Texten nicht abgemüht hätten. Ein Abschnitt berichtete darüber, wie Volker Engel in der DDR für seinen Widerstand gegen das Naziregime geehrt wurde, einen Widerstand, der ihn der offiziellen Version zufolge das Leben gekostet hatte. Schon an der Stelle hatte Kelmi gestockt. Er hatte gewusst, dass Susus Vater nicht mehr lebte, er hatte auch zu wissen oder vielmehr zu spüren geglaubt, dass zwischen ihr und dem Vater ein besonderes Band bestanden hatte, aber er hatte ganz und gar nicht gewusst, dass die Gestapo ihn erschossen hatte.
In seiner Wohnung, nur ein paar Minuten Fußweg von hier. In der Wohnung, die Susu als ihr Zuhause gekannt hatte, in der sie geboren und aufgewachsen war.
Im nächsten Abschnitt wurde behauptet, mit Volker Engels Status als Widerstandskämpfer werde ein regelrechter Kult betrieben, inszeniert von Eugen Terbruggen, dem Staatssekretär des Kultusministers, sowie von Engels Tochter, einer linientreuen Lehrerin. Eine Schule und letzthin sogar eine Straße seien ihm gewidmet worden, zwei Gedenksteine aufgestellt. Engel, so hieß es, sei nur einer von zahllosen gefeierten Antifaschisten, deren Namen vor Beginn dieser kultischen Verehrung kein Mensch je gehört habe und deren Leistung im Widerstand nicht nachzuweisen sei.
,,Wer an den zahllosen Gedenksteinen, feierlich umbenannten Gebäuden und Erinnerungstafeln vorbeigeht, möchte meinen, die gesamte DDR sei von nichts als Widerstandskämpfern bevölkert“, schrieb der Verfasser des Artikels. ,,Und genau diesen Eindruck wollen die Verantwortlichen auch erwecken.“
Volker Engel, so hieß es weiter, sei ein bedeutungsloser, aus dem Schuldienst entlassener Lehrer gewesen, der seiner Kurzsichtigkeit wegen ausgemustert worden sei und sich mit seiner Familie eben durchgeschlagen habe wie Tausende anderer Bürger auch.
,,Genügt es, dass jemand kein Mitglied der NSDAP war und dass ihm, soweit bekannt, nichts zur Last gelegt werden kann, um ihn in der unfreien Hälfte Deutschlands zum Widerstandskämpfer zu erheben?“
Damit war der Textteil des Beitrags so gut wie zu Ende. Auf sechs Seiten aufgebläht wurde er durch Bilder von Susus Mutter und der verkniffen ins Leere starrenden Tante, die in strömendem Regen auf der Gedenkfeier standen.