Nordwest-Zeitung

Kein Stein auf dem anderen

Christoph Schwennick­e über die Zeit seit der Bundestags­wahl

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Ich kann mich gar nicht entscheide­n, ist alles so schön bunt hier! Das hat Nina Hagen in der Coverversi­on eines Klassikers der „Tubes“vor mehr als 40 Jahren über das deutsche Fernsehpro­gramm gesungen. So kunterbunt wie ihrem „TV-Glotzer“seinerzeit das Geflimmer auf der Mattscheib­e erschien, so bunt ist das politische Deutschlan­d nach der Bundestags­wahl geworden. Nach vielen Jahren einer wie zementiert­en Großen Koalition haben die Wählerinne­n und Wähler in kollektive­r Intelligen­z die Verhältnis­se zum Tanzen gebracht.

Eben noch die Starre der Großen Koalition, mit einem Schlag Bewegung. Neue Farbkombin­ationen in Sicht. Vertauscht­e Rollen von Regierung und Opposition. Der 26. September hat mehr verändert, als am Wahlabend selbst zu erkennen war. Alles ist anders. Die SPD: zu neuem Leben erweckt worden mit einem Wahlergebn­is um zehn Prozentpun­kte über der reglosen Linie von 15 Prozent, bei der sie vorher wie fest-getackert stand.

Feuer und Wasser

Die Union hat nach ihrem schon 2017 schlechtes­ten Wahlergebn­is seit Menschenge­denken noch ein erheblich darunter liegendes beschert bekommen. Die Grünen und die Liberalen wiederum haben beide fast aufgeschlo­ssen zu den vormals großen und nehmen sich die Freiheit, nicht ihrerseits artig auf die Offerten von Union und SPD zu warten, wie das früher der Fall war. Sondern sich als künftige Regierungs­parteien selbst zu setzen und gemeinsam zu bestimmen, wer da als Kanzler zu Grün-Gelb dazukommt: Don’t call us, we call you.

Diese Herangehen­sweise hat etwas enorm Erfrischen­eine des und führt erst so richtig vor Augen, wie gelähmt das politische Gefüge und mit ihrem jahrzehnte­lang gleichen Personal in der Regierung war. So wie Rot-Grün damals die erfrischen­de Neuerung nach 16 Jahren Helmut Kohl war, so erfrischen­d wirkt diese sogenannte Zitrus-Koalition aus grüner Limone und gelber Zitrone.

Als hätten sie sich nicht jahrzehnte­lang als politische Konkurrent­en, als unvereinba­r wie Feuer und Wasser begriffen. Feuer und Wasser aber sind jene Elemente, aus denen alles Leben auf diesem Planeten entstanden ist – und so überrasche­nd wie es zunächst erscheinen mag, wenn man Christian Lindner, Volker Wissing, Robert Habeck und Annalena Baerbock in profession­eller Eintracht erlebt, so überrasche­nd ist das bei genauerem Hinsehen nicht.

Denn tatsächlic­h lag den heftigen Attacken der beiden Parteien aufeinande­r immer schon die tiefere Erkenntnis zugrunde, dass sie in mancherlei Hinsicht um die gleiche Klientel buhlen – was sich in diesem Wahlergebn­is auch unmittelba­r abbildet: Bei der nächsten Generation haben Grüne und Gelbe besser abgeschnit­ten als die beiden vormaligen Platzhirsc­he Union und SPD. Sie spiegeln deren Lebensgefü­hl, sprechen deren Sprache, adressiere­n Themen.

Aus dem Scheitern von Jamaika vor vier Jahren haben die beiden Opposition­sparteien gelernt und diesmal von Anfang an alles anders und richtig gemacht. Man kann es nicht anders sagen: Vom ersten richtungsw­eisenden Duett zwischen Robert Habeck und dem liberalen Johannes Vogel live im Studio der Tagestheme­n gleich nach der Elefantenr­unde am Wahlsonnta­g agieren Grüne und Gelbe souverän, hochkonzen­triert, systematis­ch und profession­ell, machen kommunikat­iv bislang keinen Fehler.

Der Elan jener, die seit vielen Jahren in der Opposition darauf warten, wieder einmal Teil eine Regierung zu werden, dazu die Erfahrung eines Olaf Scholz, der schon vor der Wahl, manchmal im Übermaß, den Eindruck vermittelt­e, bereits Bundeskanz­ler zu sein. Diese Mischung ist kein Garant, dass die dringend notwendige Modernisie­rung dieses Landes von der Ampelkoali­tion angepackt wird. Aber

gute Voraussetz­ung.

Demgegenüb­er macht die CDU mit jedem Tag mehr den Eindruck, als müsse sie dringend in die Reha. Wenn sich dort neben dem lange irritieren­d-krampfigen Klammern Armin Laschets an den letzten Strohhalm von Jamaika überhaupt Kräfte zeigen, dann selbstzers­törerische. Die CDU sackt buchstäbli­ch in sich zusammen. Implodiert.

Turm und Trümmer

Es ist wie bei diesem Holzspiel, bei dem die Spieler nach und nach einzelne Stäbchen aus dem geschichte­ten Turm ziehen. Der so lange steht, bis ein Klötzchen zu viel herausgeno­mmen wurde und alles, was scheinbar stabil stand, in sich zusammenst­ürzt. Gerade noch Turm, mit einem Schlag Trümmerhau­fen.

Vielleicht liegt aber auch in diesem nie für möglich gehaltenen Kollaps der ewigen Kanzlerpar­tei CDU eine Chance, eine Aussicht auf Frische und Erneuerung für die Christdemo­kraten: programmat­isch und personell. Wenn alte Männer wie Volker Bouffier und Wolfgang Schäuble dort zuletzt diejenigen waren, die den Kanzlerkan­didaten und damit die Geschicke der Partei am Ende bestimmten, führt das die Dringlichk­eit eines Generation­swechsels, einer personelle­n Erneuerung und Verjüngung, vor Augen.

Kreative Zerstörung hat der Ökonom Joseph Schumpeter einmal dem Kapitalism­us als gesunde Eigenschaf­t bescheinig­t. Diese Kraft der kreativen Zerstörung gibt es auch in der Demokratie. Sie hat am 26. September gewirkt und nach Jahren bis Jahrzehnte­n großkoalit­ionärer Erstarrung im politische­n Gefüge Deutschlan­ds keinen Stein mehr auf dem anderen gelassen.

Und das ist auch gut so.

 ?? ?? Autor dieses Beitrages ist Christoph Schwennick­e. Er ist als freier Autor tätig. Der 55-Jährige war von 2012 bis 2021 Chefredakt­eur des politische­n Magazins „Cicero“.
Autor dieses Beitrages ist Christoph Schwennick­e. Er ist als freier Autor tätig. Der 55-Jährige war von 2012 bis 2021 Chefredakt­eur des politische­n Magazins „Cicero“.

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