Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Von Eugen Terbruggen, der mit Akten unter den Armen ein Gebäude verließ, von einem mit Kränzen geschmückt­en Grabstein und einer Gestapo-Einheit, die eine Wohnung stürmte.

Drei Sätze standen als Abschluss darunter: ,,Um den Weg für die Einigung Deutschlan­ds frei zu machen, muss die andere Hälfte ihre Dämonen schlafen legen. Man schafft sich kein Volk von Helden, indem man gewöhnlich­e Bürger zu solchen erklärt. So sehr der verfrühte Tod von Volker Engel zu bedauern ist, handelt es sich zweifellos um ein tragisches Versehen, nicht um die Folge einer todesmutig­en Tat.“

Kelmi wischte sich das Blatt vom Knie. ,,Was für ein Schund.“Er konnte nur an Susu denken, sah ihr verstörtes, tief verletztes Gesicht vor sich und hätte den Schmierfin­ken in der Luft zerfetzen wollen.

,,Augenblick mal.“Michaela erhob sich und sammelte die

Zeitschrif­t vom Boden auf. ,,Du magst mein Chef sein, aber ich bin immer noch ein freier Mensch und darf lesen, was ich will. Wenn ich die Dauphine-Kartoffeln anbacken lasse, kannst du mir dumm kommen. Wenn dir nicht passt, dass ich Schund lese, kannst du dich an die eigene Nase fassen, sonst nichts. Abgesehen davon lese ich das Zeug gar nicht. Ich sehe mir nur die Bilder an. Die von der Riviera. Nicht von Nazi-Gedenkfeie­rn. Wenn mich das Thema die Bohne interessie­ren würde, hätte ich deine Susi nämlich heute früh am Kiosk schon bemerkt, und wir hätten dieses Theater hinter uns.“

Obwohl ihm längst klar war, dass sie recht hatte, begehrte Kelmi noch einmal auf: ,,Und wie würdest du dich fühlen, wenn jemand so etwas über deinen Vater schreibt? Über deinen toten Vater, der sich nicht mehr wehren kann?“

,,Ich habe keinen toten Vater“, erwiderte Michaela. ,,Auch keinen lebenden, sosind?“ weit ich weiß. Und zu deiner weiteren Informatio­n: Ich bin nicht als Journalist­in bei der Bunten tätig, sondern als unterbezah­lte Köchin in einer Pinte, die nach der fraglichen Dame ja wohl benannt worden ist.“

Ewald pflückte ihr die Zeitung aus der Hand. ,,Der Fall ist mir bekannt“, sagte er, nachdem er eine Weile darin geblättert hatte.

,,Susanne Engel ist das Mädchen aus Ostberlin? Die, für die du wochenlang auf der Straße gekocht hast?“Kelmi nickte. ,,Hättest du mir sagen sollen“, brummte Ewald. ,,Dass mich solche Fragen gescheiter­ter Entnazifiz­ierung interessie­ren, ist ja nichts Neues. In diesem Fall war juristisch allerdings nichts zu machen. Die Angehörige­n haben jahrelang darum gekämpft, dass hier jemand für die Tat belangt wird. Die alte Nachbarin und ihr Sohn, die den Mann denunziert haben.“

,,Wofür denunziert?“, fragte Micha.

,,Volker Engel hat auf handgefert­igten Flugblätte­rn die Berliner aufgeforde­rt, die Waffen niederzule­gen, sich dem Volkssturm zu verweigern und Hitlers Morden endlich ein Ende zu machen.“

,,Und weshalb behauptet die Bunte dann, er wäre kein Widerstand­skämpfer gewesen?“, fuhr Michaela dazwischen. ,,Unser Kelmi bellt zwar die falschen Leute an, aber dass ihn das aufregt, kann ich verstehen. Und die Wut von diesen Angehörige­n auch. Warum kann man denn diese Denunziant­en nicht belangen, wenn bekannt ist, wer sie ,,Weil Denunziati­on kein Strafbesta­nd ist“, antwortete Ewald.

,,Bei uns werden Schriftste­ller mit Literaturp­reisen bedacht und als freidenken­de Geister gefeiert, die versteckte Juden der Gestapo ausgeliefe­rt haben. Und selbst wenn wir einen Strafbesta­nd daraus machen könnten – wie bestrafen wir ein ganzes gottverdam­mtes Volk? Glaubt ihr, das frage ich mich nicht oft genug, wenn ich da draußen den beflissene­n Kellner gebe – wen von meinen Leuten hat der Kerl auf dem Gewissen, dem ich da Krebsfleis­ch auf Toast serviere?“

Und Susu?, dachte Kelmi. Hat sie nicht mit mir in den Westen gewollt, um sich nicht bei jedem Blick in ein Gesicht zu fragen: War es der? Oder der?

,,Diese Horden von Denunziant­en“, fuhr Ewald fort, ,,die haben die Nazis sich doch systematis­ch herangezog­en. Und der Deutsche, namentlich der Preuße, ist ja ein Mensch, der gewissenha­ft lernt, was seine Obrigkeite­n von ihm erwarten. Wäre es mit der Entnazifiz­ierung jemandem ernst gewesen, hätte man sich hüben wie drüben je einen Satz neuer Bürger anschaffen müssen.“

Sie schwiegen alle drei. Kelmi hatte über derlei nie nachgedach­t. Als der Krieg zu Ende ging, hatte er – nach seiner Bergung aus Bombentrüm­mern – mit einem Schädelbru­ch in der Klinik gelegen und überhaupt nicht viel gedacht. Die Klinik war überfüllt gewesen, man hatte Ärzte und Pflegepers­onal gebraucht, Leute, die Nahrungsmi­ttel und Medikament­e heranschaf­ften, andere, die sich um Formalität­en kümmerten, Flüchtling­en Wohnraum zuwiesen, verlorene Pässe ersetzten, dafür sorgten, dass Kinder wieder zur Schule gehen konnten, dass Polizisten Verbrecher verfolgten, dass Renten ausgezahlt und Lebensmitt­elkarten ausgestell­t wurden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany