WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
Von Eugen Terbruggen, der mit Akten unter den Armen ein Gebäude verließ, von einem mit Kränzen geschmückten Grabstein und einer Gestapo-Einheit, die eine Wohnung stürmte.
Drei Sätze standen als Abschluss darunter: ,,Um den Weg für die Einigung Deutschlands frei zu machen, muss die andere Hälfte ihre Dämonen schlafen legen. Man schafft sich kein Volk von Helden, indem man gewöhnliche Bürger zu solchen erklärt. So sehr der verfrühte Tod von Volker Engel zu bedauern ist, handelt es sich zweifellos um ein tragisches Versehen, nicht um die Folge einer todesmutigen Tat.“
Kelmi wischte sich das Blatt vom Knie. ,,Was für ein Schund.“Er konnte nur an Susu denken, sah ihr verstörtes, tief verletztes Gesicht vor sich und hätte den Schmierfinken in der Luft zerfetzen wollen.
,,Augenblick mal.“Michaela erhob sich und sammelte die
Zeitschrift vom Boden auf. ,,Du magst mein Chef sein, aber ich bin immer noch ein freier Mensch und darf lesen, was ich will. Wenn ich die Dauphine-Kartoffeln anbacken lasse, kannst du mir dumm kommen. Wenn dir nicht passt, dass ich Schund lese, kannst du dich an die eigene Nase fassen, sonst nichts. Abgesehen davon lese ich das Zeug gar nicht. Ich sehe mir nur die Bilder an. Die von der Riviera. Nicht von Nazi-Gedenkfeiern. Wenn mich das Thema die Bohne interessieren würde, hätte ich deine Susi nämlich heute früh am Kiosk schon bemerkt, und wir hätten dieses Theater hinter uns.“
Obwohl ihm längst klar war, dass sie recht hatte, begehrte Kelmi noch einmal auf: ,,Und wie würdest du dich fühlen, wenn jemand so etwas über deinen Vater schreibt? Über deinen toten Vater, der sich nicht mehr wehren kann?“
,,Ich habe keinen toten Vater“, erwiderte Michaela. ,,Auch keinen lebenden, sosind?“ weit ich weiß. Und zu deiner weiteren Information: Ich bin nicht als Journalistin bei der Bunten tätig, sondern als unterbezahlte Köchin in einer Pinte, die nach der fraglichen Dame ja wohl benannt worden ist.“
Ewald pflückte ihr die Zeitung aus der Hand. ,,Der Fall ist mir bekannt“, sagte er, nachdem er eine Weile darin geblättert hatte.
,,Susanne Engel ist das Mädchen aus Ostberlin? Die, für die du wochenlang auf der Straße gekocht hast?“Kelmi nickte. ,,Hättest du mir sagen sollen“, brummte Ewald. ,,Dass mich solche Fragen gescheiterter Entnazifizierung interessieren, ist ja nichts Neues. In diesem Fall war juristisch allerdings nichts zu machen. Die Angehörigen haben jahrelang darum gekämpft, dass hier jemand für die Tat belangt wird. Die alte Nachbarin und ihr Sohn, die den Mann denunziert haben.“
,,Wofür denunziert?“, fragte Micha.
,,Volker Engel hat auf handgefertigten Flugblättern die Berliner aufgefordert, die Waffen niederzulegen, sich dem Volkssturm zu verweigern und Hitlers Morden endlich ein Ende zu machen.“
,,Und weshalb behauptet die Bunte dann, er wäre kein Widerstandskämpfer gewesen?“, fuhr Michaela dazwischen. ,,Unser Kelmi bellt zwar die falschen Leute an, aber dass ihn das aufregt, kann ich verstehen. Und die Wut von diesen Angehörigen auch. Warum kann man denn diese Denunzianten nicht belangen, wenn bekannt ist, wer sie ,,Weil Denunziation kein Strafbestand ist“, antwortete Ewald.
,,Bei uns werden Schriftsteller mit Literaturpreisen bedacht und als freidenkende Geister gefeiert, die versteckte Juden der Gestapo ausgeliefert haben. Und selbst wenn wir einen Strafbestand daraus machen könnten – wie bestrafen wir ein ganzes gottverdammtes Volk? Glaubt ihr, das frage ich mich nicht oft genug, wenn ich da draußen den beflissenen Kellner gebe – wen von meinen Leuten hat der Kerl auf dem Gewissen, dem ich da Krebsfleisch auf Toast serviere?“
Und Susu?, dachte Kelmi. Hat sie nicht mit mir in den Westen gewollt, um sich nicht bei jedem Blick in ein Gesicht zu fragen: War es der? Oder der?
,,Diese Horden von Denunzianten“, fuhr Ewald fort, ,,die haben die Nazis sich doch systematisch herangezogen. Und der Deutsche, namentlich der Preuße, ist ja ein Mensch, der gewissenhaft lernt, was seine Obrigkeiten von ihm erwarten. Wäre es mit der Entnazifizierung jemandem ernst gewesen, hätte man sich hüben wie drüben je einen Satz neuer Bürger anschaffen müssen.“
Sie schwiegen alle drei. Kelmi hatte über derlei nie nachgedacht. Als der Krieg zu Ende ging, hatte er – nach seiner Bergung aus Bombentrümmern – mit einem Schädelbruch in der Klinik gelegen und überhaupt nicht viel gedacht. Die Klinik war überfüllt gewesen, man hatte Ärzte und Pflegepersonal gebraucht, Leute, die Nahrungsmittel und Medikamente heranschafften, andere, die sich um Formalitäten kümmerten, Flüchtlingen Wohnraum zuwiesen, verlorene Pässe ersetzten, dafür sorgten, dass Kinder wieder zur Schule gehen konnten, dass Polizisten Verbrecher verfolgten, dass Renten ausgezahlt und Lebensmittelkarten ausgestellt wurden.