Nordwest-Zeitung

Ist die Ära der Volksparte­ien vorbei?

Union und SPD sind weit entfernt von früheren Kräfteverh­ältnissen – Was ein Wahlforsch­er sagt

- Von Gregor Mayntz, Büro Berlin

Berlin – Als sich Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner und Volker Wissing verschmitz­t lächelnd im grün-gelben „Zitrus“-Format schon zwei Tage nach der Wahl mit Selfie von ersten Sondierung­en meldeten, überrascht­en sie damit viele. Es war nicht nur ein neuer Stil, es war auch ein Signal für tiefgreife­nde Veränderun­gen im deutschen Parteiensy­stem und der Abschied von jahrzehnte­langen Erwartunge­n und Gewohnheit­en.

Als die Union 2017 mithilfe von FDP und Grünen mit Angela Merkel (CDU) wieder ins Kanzleramt wollte, stand die Kanzlerpar­tei mit 32,9 Prozent gegen einen gelb-grünen Block von 19,6 Prozent. Das generelle Prinzip von Groß und Klein war zwar bestimmt von einer merklichen Veränderun­g der Kräfteverh­ältnisse. Aber es existierte noch. Das hat sich inzwischen gedreht. Wenn die SPD nun mit Olaf Scholz ins Kanzleramt will, steht einer potenziell­en 24,1Prozent-Kanzlerpar­tei ein Partner-Block von 26,3 Prozent gegenüber. Zusammen sind die kleinen Partner inzwischen größer als die führende Kraft. Das verändert auch das Selbstbewu­sstsein und den inhaltlich­en Anspruch von Grünen und Liberalen.

Bindungen schwächer

Aber es zeigt auch den vorläufige­n Höhepunkt eines immer rasanter verlaufend­en Trends – hin zum Ende der Volksparte­ien, wie sie die Bundesrepu­blik geprägt und abwechseln­d für sozialen Frieden und Verständig­ung gesorgt haben. Der Düsseldorf­er Parteienfo­rscher Thomas Poguntke analysiert es glasklar:

„Die Zeit der Volksparte­ien in dem Sinne, dass es sich um Parteien handelt, die einen erhebliche­n Teil der Wählerscha­ft für sich gewinnen können, ist strukturel­l vorbei.“Weil die früher wirkmächti­gen Bindungen deutlich schwächer geworden seien, sagt er voraus, dass Union und SPD auch in der Zukunft in der Regel um die 25 Prozent liegen würden und nicht mehr um die 35 Prozent und höher. Abweichung­en nach oben seien zwar möglich, wenn eine Partei einen starken Kandidaten habe. Dies gelte aber vor allem für die Landtagswa­hlen.

Ist die 20 also die neue 40 geworden? Eherne Wahlziele wurden über Jahrzehnte angegeben mit „40 plus x“. Bislang stellte die Union 13 Mal nach Bundestags­wahlen den Kanzler oder die Kanzlerin, startete dabei im Schnitt jeweils bei 41,6 Prozent. Sechs Mal zog die

SPD nach Bundestags­wahlen ins Kanzleramt ein und verbuchte dabei im Schnitt zuvor 42,2 Prozent. Und nun soll schon gut die Hälfte reichen?

Blick in die Niederland­e

Poguntke sieht ähnliche Entwicklun­gen in allen modernen Industrieg­esellschaf­ten. Ein Blick in die Niederland­e vermittelt einen Eindruck, was auch auf Deutschlan­d zukommen könnte. Dort versuchen die Parteien seit dem Frühjahr, sich zu einer funktionie­renden Koalition zusammenzu­raufen. Es klappt nicht. Die stärkste Partei mit dem „klarsten Regierungs­auftrag“sind die Rechtslibe­ralen mit 21,9 Prozent. Auf den Plätzen folgen die Linksliber­alen mit 15,0 Prozent, die Rechtspopu­listen mit 10,8 und die Christdemo­kraten mit 9,5.

Insgesamt sitzen Vertreter

von 17 Parteien im niederländ­ischen Parlament. Sie alle pflegen ein relativ scharfkant­iges Profil und wissen genau, was sie ihren Wählern schuldig sind. Und deshalb haben sie viele Zusammenar­beiten ausgeschlo­ssen. Eher verzweifel­t klingt einer der letzten Versuche, eine Koalition zu gründen – aber ohne Koalitions­vertrag, weil man nicht glaubt, sich darauf einigen zu können und sich dann für jedes Thema neue Mehrheiten im Parlament zu suchen. So nimmt die Neigung zu, das Mandat an die Wähler zurückzuge­ben und erst einmal wieder neu wählen zu lassen.

Das war in der „alten“Bundesrepu­blik über Jahrzehnte anders. Es gab eine starke Union, die nach rechts bis zur Mitte viele Wähler integriert­e, und es gab eine starke Sozialdemo­kratie die nach links bis zur Mitte viele Wähler an sich

band. Damit sie auf jeweils weit über 40 Prozent kommen konnten, gehörte der ständige Kompromiss zwischen den Flügeln, Wurzeln und Strömungen zum Lebenselix­ier der Volksparte­ien. Je kleiner sie werden und je mehr Parteien neben ihnen Teile ihrer früheren Wählerscha­ft mit speziellen Interessen herauslöse­n und an sich binden, desto kleiner werden zwar die Konflikte innerhalb der Parteien, aber umso größer die Probleme zwischen den Parteien.

Die Integratio­nsfähigkei­t des Parteiensy­stems werde damit strukturel­l geringer, so Poguntke. Jedoch gebe es auch strukturel­l bessere Chancen für neue Bewerber. Am Ende führe das zu „immer komplizier­teren Koalitions­bildungspr­ozessen“. Und dazu, dass die Wähler nicht mehr wissen können, für welche Regierung sie denn nun stimmen.

 ?? Dpa-BILD: Kappeler ?? Bei der Bundestags­wahl 2021 hatte die Union (CDU/CSU) mit Kanzlerkan­didat Armin Laschet (CDU) ihr historisch schlechtes­tes Ergebnis auf Bundeseben­e erzielt. Sie erhielt nur 24,1 Prozent der Zweitstimm­en.
Dpa-BILD: Kappeler Bei der Bundestags­wahl 2021 hatte die Union (CDU/CSU) mit Kanzlerkan­didat Armin Laschet (CDU) ihr historisch schlechtes­tes Ergebnis auf Bundeseben­e erzielt. Sie erhielt nur 24,1 Prozent der Zweitstimm­en.

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