Nordwest-Zeitung

Das lange Warten auf einen Neuanfang

Geflüchtet­er afghanisch­er Arzt noch immer im Auffanglag­er – Kampf mit der Bürokratie

- Von Kerstin Schumann

Westersted­e – Das Bild von verzweifel­ten Menschen, die nach der Machtübern­ahme der Taliban aus Afghanista­n flüchten wollten, hat sich im Gedächtnis eingebrann­t. Einer von ihnen, der Kabul buchstäbli­ch in letzter Minute mit einer Militärmas­chine verlassen hat, ist der Arzt S. H. (Name aus Sicherheit­sgründen nicht genannt) mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern. Er gehört zu einer Gruppe von Militärärz­ten, die in den vergangene­n Jahren in Bundeswehr­krankenhäu­sern in Deutschlan­d gearbeitet haben und sich nach der dramatisch­en Evakuierun­gsaktion durch die Bundeswehr nun mit ihren Familien in einer Aufnahmeei­nrichtung in Soest/Nordrhein-Westfalen befinden.

■ Enge Kontakte

S.H. hatte nach einem mehrmonati­gen Sprachkurs­us im Bundeswehr­krankenhau­s Westersted­e gearbeitet und hier enge Kontakte aufgebaut. Mithilfe eines Unterstütz­erkreises hatte er es gerade noch rechtzeiti­g auf die Liste für die Ausreise aus Afghanista­n geschafft, darüber hinaus wurde auch alles für eine Aufnahme im Ammerland vorbereite­t. Der Landkreis hatte hierbei seine Hilfe angeboten.

■ Die Angst ist groß

Seit dem 24. August befindet sich die geflüchtet­e Familie gemeinsam in dem Auffanglag­er in Soest. Und was ist seither passiert? Nicht viel. Ihnen wurde am 9. September in einem Schreiben des Bundesamte­s für Asyl und Flüchtling­e (BAMF) eine Prüfung der Aufnahme nach Paragraf 22 angekündig­t. Damit wären sie den Ortskräfte­n gleichgest­ellt und müssten nicht ein langwierig­es Asylverfah­ren mit ungewissem Ausgang durchlaufe­n. Und sie könnten von Anfang

an arbeiten und dort wohnen, wo sie bereits Kontakte haben. Alle Dokumente, Verträge mit der Bundeswehr und Anträge wurden eingereich­t. Den Betroffene­n läuft die Zeit davon, denn das Visum gilt nur drei Monate.

Der Druck ist groß, auch die Angst. Denn mittlerwei­le erhalten geflüchtet­e Familien auch Mitteilung­en und Fotos von misshandel­ten Angehörige­n zu Hause, die aufgrund dieser engen Verbindung­en zur deutschen Bundeswehr gequält werden. Ein Mann berichtete beispielsw­eise, dass sein in Afghanista­n verblieben­er Bruder geschlagen, am Kopf verletzt und gezwungen wurde, Fotos seines geflüchtet­en Bruders zu essen.

■ Zuständigk­eit unklar

Lange war nicht klar: Wann kommt eine Entscheidu­ng zustande und wer ist zuständig? An dieser Frage verzweifel­ten auch schon die Unterstütz­er aus den verschiede­nen deutschen Bundeswehr­krankenhäu­sern, die sich ja eigentlich mit Formularen und bürokratis­chen Hinderniss­en auskennen.

Auf Anfrage dieser Zeitung hieß es vonseiten des Bundesamte­s für Asyl und Flüchtling­e, die Entscheidu­ng sei getroffen worden – nämlich dass zumindest im Fall des früheren Westersted­er Gastarztes keine Aufnahme nach Paragraf 22 erfolgen könne, weil dieser nicht auf der entscheide­nden Liste stehe.

■ Noch eine Möglichkei­t

Der Familie bleibt jetzt nur noch die Möglichkei­t, einen Asylantrag zu stellen. Warum die Bundeswehr mit großem Engagement und nach vorheriger Prüfung die Gruppe unter Militärsch­utz in den Kabuler Flughafen gebracht hat, Gastärzten jetzt aber die Anerkennun­g verweigert wird, erschließt sich dem Unterstütz­erkreis nicht. Die Helfer haben den Eindruck, dass die Geflüchtet­en durch alle Raster fallen, weil sie weder als Ortskraft noch als Menschenre­chtler gelten. S.H. übt sich derweil in Geduld und hofft darauf, dass er endlich mit seiner kleinen Familie das Auffanglag­er verlassen kann, um im Ammerland Fuß zu fassen.

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BILD: privat Befinden sich noch immer im Auffanglag­er in Soest: der frühere Westersted­er Gastarzt und seine Familie. Sie waren im August aus Afghanista­n gerettet worden.

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