„Essen und Trinken sind etwas Emotionales“
Ernährungsberaterin spricht über den Trend zur Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen
Oldenburg – Es ist ein gefährlicher Trend, der sich durch die Corona-Pandemie noch verstärkt haben dürfte: Immer mehr Kinder und Jugendliche sind adipös, sprich extrem übergewichtig. Einer neuen Studie der Kaufmännischen Krankenkasse in Hannover (KKH) zufolge, nahm die Zahl der fettleibigen 6- bis 18-Jährigen bundesweit zwischen 2010 und 2020 um 27 Prozent zu.
Die Ernährungsberaterin Sandra Walther ist seit 21 Jahren im Bereich Adipositas bei Kindern und Jugendlichen tätig. „In dieser ganzen Zeit haben wir keinen Rückgang erlebt, nur steigende Zahlen“, sagt die 50-jährige Oldenburgerin.
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Die Probleme
Die Menschen, die sich in der Praxis melden, seien selten die sozial Schwächsten. „Die schlimmsten Fälle fallen durch das Netz. Das sind oft Menschen, die die Problemaden
Fast jeder in Deutschland hat Zugriff auf einen gefüllten Kühlschrank – ein Zustand, der Übergewicht fördert, sagt Ernährungsberaterin Sandra Walther.
tik nicht erkennen“, erklärt Walther. Ihre Patienten seien viel mehr die, deren Ärztinnen gewarnt hätten und denen geraten worden sei, sich Hilfe zu suchen. Sie kämen aus allen Gesellschaftsschichten.
„In den meisten Fällen ist auch mindestens ein Elternteil übergewichtig“, fährt Sandra Walther fort. „Essen und Trinken sind etwas Emotionales“, betont sie. Essen beruhige, mache müde und sei auch
eine Tätigkeit gegen Langeweile. Das helfe vielen gegen Stress oder Leistungsdruck. Dazukomme, dass übergewichtige Kinder und Jugendliche häufig ein geringes Selbstbewusstsein hätten. Es gebe das Bild, sie könnten sich nicht beherrschen. „In der Pubertät schlägt das vor allem bei jungen Mädchen oft in das Gegenteil um.“Ein weiteres Problem für Jugendliche: Bei übergewichtigen Jungen wür
mehr weibliche Hormone gebildet, bei Mädchen männliche. „Das merken sie auch und es stört sie.“
Vor 20 Jahren hatte Walther nur selten Kinder in Behandlung, die sich Richtung Diabetes entwickelt hätten. Heute komme das häufig vor, auch bei Kindern um die zwölf Jahre. „Das fängt mit Kopfschmerzen wegen Haltungsschäden an, erhöhten Leberwerten, Vorstufen von Typ-2Diabetes“, zählt Walther auf. Das habe auch mit Schulzeiten zu tun. Es gebe Studien, die belegen, dass Kinder ab der 4., 5. Klasse dazu neigen, übergewichtig zu werden. Dann gebe es mehr Hausaufgaben, die Schultage werden länger, die Bewegung nimmt ab. Dazukomme der verstärkte Zugriff auf Smartphones.
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Die Pandemie
Die Corona-Pandemie hat die Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche sich bewegen, zusätzlich reduziert. „Kinder bewegen sich nicht unbedingt allein, sie brauchen ihresgleichen“, erklärt Walther. Im Lockdown seien viele allein und zu Hause gewesen. Das verstärke ein weiteres Problem, dass Walther grundsätzlich erkennt: Heute haben die meisten Menschen in Deutschland uneingeschränkten Zugang zu Lebensmitteln. „Wer zu Hause ist, greift schneller zu noch einem Glas Saft, das ist völlig menschlich.“
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Die Möglichkeiten
„Das Wichtigste ist, sensibel einzusteigen", erklärt Walter. Es bringe nichts, den Eltern oder jungen Patienten Vorwürfe zu machen. Wichtig sei, deren Selbstbewusstsein zu stärken, dass sie sich nicht als Außenseiter sehen. Das erste Ziel: das Gewicht stabilisieren. Schon etwas mehr Bewegung und weniger Süßigkeiten seien ein Erfolg. Walther ist deshalb auch Partnerin des Schulungsprogramms „KIDS“für übergewichtige Kinder und Jugendliche. Das Programm soll zum Umdenken anregen und fördert einen gesünderen, bewegungsreicheren Alltag.