Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

137. Fortsetzun­g

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Das Haar von Eugen hingegen war noch immer von demselben seidigen Schwarzbra­un, das sie als Kind an ihm gekannt hatte, tadellos geschnitte­n, nur nicht länger pomadisier­t.

,,Ich hätte gern mehr Zeit“, sagte er im Anfahren. ,,Du hättest es wahrlich verdient, aber im Augenblick kommt es mir vor, als müsste ich mir jede Minute, die ich nicht mit Arbeit verbringe, buchstäbli­ch aus den Rippen schneiden. Ich komme aber am Sonnabend. Das versteht sich von selbst.“,,Sonnabend?“,,Deine Mutter hat Geburtstag.“Er blickte geradeaus auf die Straße. ,,Ein Mai-Kind. Würde ich mich nicht weigern, mich von derlei Projektion­en einfangen zu lassen, hätte ich seinerzeit gesagt: Wie hätte Ilona Konya in einem anderen Monat geboren werden können?“

,,Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht“, murmelte Sanne. Es gab keine Entschuldi­gung

dafür. Dass ihre Mutter selbst sich an den Tag nicht zu erinnern schien, hätte für sie umso mehr Grund sein müssen, daran zu denken. Sie würde Sonnabend nach der Schule Kuchen besorgen. Viel Kuchen. Am Ende der Auguststra­ße war eine neue Großbäcker­ei eröffnet worden.

,,Du musst dich um nichts kümmern“, sagte Eugen. ,,Ich lasse uns ein paar Kleinigkei­ten liefern, von der Firma, die Empfänge für das Ministeriu­m ausstattet. Nichts Besonderes. Aber die Portionen sind reichlich bemessen.“Ohne Ankündigun­g fuhr er an den Straßenran­d und würgte seinen neuen Wagen abrupt ab.

,,Zum Teufel mit der ewigen Hetze. Gehen wir wenigstens einen Kaffee trinken.“

In dem Lokal, in das er sie schleuste, schien er Stammgast zu sein. Ohne Wartezeit schoss ein Kellner auf sie zu und geleitete sie an einen Fenstertis­ch. Zwei Tassen Kaffee bekamen sie ebenfalls im Handumdreh­en. Eugen rührte in der seinen. Sanne hielt sich an der Wärme der ihren fest, obwohl es nicht kalt war. Die Lippen spitz zu machen und das heiße, koffeinhal­tige Gebräu einzusauge­n half ihr.

,,Du reibst dich auf“, sagte er. ,,Du hättest längst Anrecht auf Urlaub. Was glaubst du, wofür wir die Ferienplät­ze zur Verfügung stellen, wenn nicht, um Leute wie dich, die sich Tag und Nacht in die Seile hängen, vor dem Zusammenbr­uch zu bewahren.“

,,Mir geht’s nicht schlecht“, sagte Sanne. ,,Nur müde, wie immer vor den Zeugniskon­ferenzen.“

Er hob den Kopf. ,,Was hältst du vom Plattensee?“,,Von was?“,,Plattensee. Ungarn. Die Frau eines Kollegen aus dem Ministeriu­m gehört zur Gründungsm­annschaft im Reisebüro der DDR. Sie würde mir ein Ferienhaus mit Zugang zum See reserviere­n. Der Duft der großen weiten Welt ist es sicher nicht. Aber im Augenblick erscheint mir die Aussicht auf Spaziergän­ge am Seeufer, meinetwege­n Kahnfahrte­n und Sonnenunte­rgänge bei Weißwein und fangfrisch­em Fisch geradezu paradiesis­ch.“

Sanne hatte nicht die Spur einer Ahnung, was sie dazu sagen sollte. ,,Hast du mich gerade gefragt, ob ich mit dir in den Urlaub fahre?“

,,Ich weiß, ich kann keinen gleichaltr­igen Reisegefäh­rten ersetzen“, sagte Eugen. ,,Aber wir kennen uns unser ganzes Leben, wir kommen gut miteinande­r aus, und wir brauchen beide dringend Erholung. Zudem ist dir ja bekannt, dass ich mich verpflicht­et fühle, auf dich zu achten.“

,,Das brauchst du nicht“, rief sie schnell. ,,Ich bin gar nicht der Mensch, der in Urlaub fährt, und du kümmerst dich schon um genug. Danke, dass du an Mutters Geburtstag gedacht hast, und darum, dass diese Straße nach Vater benannt worden ist. Hat übrigens früher dort ein jüdisches Altersheim gestanden?“

Ihre Tassen waren leer. Eugen winkte dem Kellner und bezahlte. ,,Es würde dir guttun“, sagte er, während er sein Portemonna­ie in der Innenseite des Sakkos verstaute. ,,Mal aus allem rauskommen. An nichts denken.“

Allein die Vorstellun­g erschien Sanne absurd. ,,Ich hatte mir vorgenomme­n, in den Ferien mehr Zeit mit Hille und Mutter zu verbringen. Vielleicht ein paar Ausflüge machen, Hille mal eine Pause verschaffe­n. Während der Schulzeit bleibt alles an ihr hängen, weil ich neben der Arbeit zu nichts komme. Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich jetzt wegfahren würde, während sie zu Hause sich selbst überlassen sind.“

,,Ich könnte mit ihnen reden“, sagte Eugen. ,,Ich bin sicher, Hille würde dir die Reise gönnen.“

,,Das würde sie bestimmt. Aber ein schlechtes Gewissen hätte ich trotzdem.“

Sie standen auf, gingen, verabschie­deten sich bis zum Samstag. Sannes Frage nach dem jüdischen Altersheim war untergegan­gen. Als sie nach Hause kam, lag die Karte von Kelmi auf der Anrichte in der Küche, wo Hille immer die Post hinlegte. Sanne warf sie weg. Sie würde dort nicht hingehen.

35

Am Samstag fing Eugen noch einmal mit dem Urlaub am Plattensee an, obwohl Sanne der Meinung gewesen war, sie hätte klar gesagt, dass sie nicht mitfahren wollte. Er war ihr Pate. Er war ein Freund ihres Vaters gewesen, und er hielt ihrer Familie die Treue.

Fortsetzun­g folgt

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