Niedrige Impfrate lässt Russlands Ärzte verzweifeln
Situation auf Intensivstationen sehr angespannt – Regierung schränkt öffentliches Leben ein
Moskau – Dr. Georgi Arbolischwili muss keine Regierungsstatistiken lesen oder die ständig neuen Rekordzahlen von Corona-Opfern hören, um zu wissen, wie ernst die Lage in Russland ist. Seine bis zur Grenze gefüllte Intensivstation im Moskauer Krankenhaus Nr. 52 führt ihm das täglich vor Augen.
Traurige Rekorde
Nur etwa 45 Millionen Russen – rund ein Drittel der 146 Millionen Einwohner – sind gegen geimpft, und nachdem die tägliche Zahl der Toten wochenlang knapp unter 1000 geblieben war, waren es am Samstag 1072 Tote, der höchste Wert seit Beginn der Corona-Pandemie – eine Situation, die Arbolischwili zufolge „Verzweiflung auslöst“. „Die Mehrheit der Patienten auf der Intensivstation in ernstem Zustand ist ungeimpft“, sagte der Arzt. Diese Erkrankungen hätten sich durch Impfungen „sehr leicht vermeiden lassen“.
Samstag meldete die Taskforce der Regierung 37 678 Neuinfektionen und 1072 neue Todesfälle in Russland im Zusammenhang mit Covid-19, jeweils ein neuer Höchststand im Land, die Zahl der Toten insgesamt liegt inzwischen bei mehr als 229 500 – bei Weitem die höchste in Europa. Russland wird inzwischen bei den Corona-Toten an fünfter Stelle auf der Welt aufgelistet – nach den USA, Brasilien, Indien und Mexiko. Die meisten Fachleute gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl sogar noch höher
liegt. Insgesamt hat die Regierung bislang russlandweit etwa 8,2 Millionen Corona-Infektionen verzeichnet.
Russland hat einen reichlichen Vorrat an Corona-Vakzinen. Aber die Menschen zögern schlicht, die Ärmel hochzuschieben, sind skeptisch, was viele auf widersprüchliche Signale der zuständigen Stellen im Land zurückführen. Und obwohl sich die Intensivstationen in den vergangenen Wochen alarmierend gefüllt haben, ging das Leben in Moskau wie gewohnt weiter. In Restaurants, Kinos, NachtAm clubs und Karaoke-Bars wimmelte es von Menschen, und Maskenvorschriften wurden in den öffentlichen Verkehrsmitteln weitgehend ignoriert.
Das lässt Medizinerinnen wie Natawan Ibragimowa schaudern. „Ich denke an die schlaflosen Nächte, wenn wir eine riesige Zahl von Patienten erhalten, die sich nicht mal darum geschert haben, banale Schutzmittel zu benutzen“, sagt die Internistin im Krankenhaus Nr. 52.
Arbeitsfreie Tage
Angesichts der jüngsten Infektionswelle ordnete Präsident Wladimir Putin am Mittwoch an, dass die meisten Beschäftigten im öffentlichen Sektor eine Woche lang nicht zur Arbeit kommen. In der Hauptstadt Moskau sollen Geschäfte und viele Freizeiteinrichtungen eine Woche lang schließen. Geöffnet bleiben sollen vom 28. Oktober bis 7. November aber Apotheken und Supermärkte, wie Bürgermeister Sergej Sobjanin am Donnerstag in seinem Blog schrieb. Einkaufszentren, Kinos und Fitnessclubs bleiben demnach zu. Schulen und Kindergärten sollen ebenfalls schließen. Restaurants und Cafés dürfen Essen und Getränke nur zum Mitnehmen anbieten. Theater und Museen dürfen dagegen weiterarbeiten – allerdings darf die Auslastung Sobjanin zufolge nur noch 50 Prozent betragen.
Die Behörden haben inzwischen den Druck auf Mitarbeiter im medizinischen Bereich, Lehrer und öffentliche Bedienstete erhöht, sich impfen zu lassen. Aber das Tempo ist lahm geblieben. Putin hat die Bedeutung von Impfungen unterstrichen, aber zugleich betont, dass sie freiwillig sein sollten.
Kremlsprecher Dmitri Peskow räumte derweil ein, dass die Regierung zwar alles getan habe, um Vakzine leicht zugänglich zu machen, aber bei der Werbung für deren Nutzen aktiver hätte sein sollen. „Offensichtlich hätte mehr dafür getan werden müssen, den Mangel an Alternativen zum Impfen zu erklären“, sagte er.