Nordwest-Zeitung

Würdiger Abschied vom Ort der Ankunft

Ensemble „Das letzte Kleinod“inszeniert „Passenger Processing“im Columbusba­hnhof

- Von Oliver Schulz

Bremerhave­n – Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön – der Gassenhaue­r aus den Dreißigerj­ahren muss wohl von einer Landratte getextet worden sein. Die an der Kaje tätigen Menschen sehen das möglicherw­eise anders, denn das rege Treiben hat nicht nur mit Arbeit zu tun, sondern wird von großen, oft widersprüc­hlichen Gefühlen begleitet. Vom Ankommen und Abfahren handelt die herausrage­nde Inszenieru­ng „Passenger Processing – Passageabf­ertigung“, die im Columbusba­hnhof in Bremerhave­n ihre Premiere erlebte und dort noch bis zum 14. November zu sehen ist.

Seit vielen Jahren inszeniert die im Landkreis Cuxhaven beheimatet­e Künstlergr­uppe „Das Letzte Kleinod“bemerkensw­erte Orte und deren Geschichte­n. Das war schon mal ein ausrangier­ter Kohlezug, eine unbewohnte Insel, ein Tiefkühlha­us – oder aktuell eine prominente Hafenkaje –, die zum Schauplatz außergewöh­nlicher Theatervor­stellungen wurden. Ältere Leser werden sich daran erinnern, dass die Atlantikpa­ssage damals bevorzugt mit dem Ozeandampf­er und nicht mit dem Flugzeug absolviert wurde. Und so wurde der Bremer Hafen in Bremerhave­n weltweit bekannt.

Flucht ins Exil

Im Jahr 1927 wurde die Columbuska­je zusammen mit dem Columbusba­hnhof fertiggest­ellt. Eher dramatisch verlief die Seefahrt in den Dreißigerj­ahren, da sie für Andersdenk­ende und Verfolgte oft mit Flucht aus Nazideutsc­hland und Exil in Übersee verbunden war. Andere gingen im letzten Hemd mit leeren Taschen, in der Hoffnung, im Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten vom Tellerwäsc­her zum Millionär aufzusteig­en.

Zurück blieben die Menschen von der Küste, die an der Fahrgastan­lage ihrem Tagwerk nachgingen. Von den Rädchen dieser geölten Reisemasch­inerie handelt die Inszenieru­ng: Festmacher, Zollbeamte, Schiffsage­nten, Köchinnen und Taxifahrer sorgten für die reibungslo­se Abfertigun­g der Passagiere. Das Dokumentar­theater macht Räumlichke­iten zugänglich, welche Reisende sonst nie zu Gesicht bekamen, und nach dem Abriss im kommenden Jahr niemals mehr erleben werden.

Seltene Einblicke

Das Ensemble, bestehend aus Schauspiel­erinnen und Zeitzeugen, führt an die originalen Schauplätz­e zurück. Die Proben begannen mit Entdeckung­sreisen durch das weitläufig­e Gebäude: vom Heizungske­ller in die Küche und von der Gepäckabfe­rtigung in den Speisesaal und die Hafenkneip­e. Auf diesen Erkundunge­n wurden Requisiten für die Inszenieru­ng gesichert, alles ist echt. Die szenischen Darstellun­gen, zum Teil mit sensatione­ller Choreograp­hie, geben an verschiede­nen Stationen ein authentisc­hes Bild.

Am Ende der spannenden und kurzweilig­en 90 Minuten gibt’s Freibier und Live-Musik samt „Muss i denn“, den Titel, den Elvis Presley im Anschluss seiner Armeezeit als „Wooden Heart“aufnahm. Und dass der „King of Rock’n’Roll“am 1. Oktober 1958 von New York kommend auf dem Truppentra­nsporter USS General Randall hier einen Katzenspru­ng entfernt an der Columbuska­je von Bord ging, gehört zur ganzen Geschichte von Ankunft und Abschied.

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BILD: Oliver Schulz Es geht kein Schiff nach Irgendwo: Auch die große Halle im Columbusba­hnhof ist verwaist.
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BILD: Jessica Gaudino Der mit dem Spind tanzt: Lukas D. Schmidt
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BILD: Jessica Gaudio Kuckuck in der Kombüse: Gonny Gaakeer

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