WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
143. Fortsetzung
Er senkte den Kopf und blies kleine Inseln in ihr Haar. Als wäre sie eine Tasse heißer Kakao, von dem er probieren wollte, sobald er ihm nicht mehr die Zunge verbrannte. ,,Ich habe auf dich gewartet“, sagte er. ,,Unter den Linden. Mir ist gerade klar geworden: Selbst wenn ich eine ganze Reihe von Sonntagen aus- gelassen habe – ich warte immer noch.“
Sie mussten beide lachen und erschraken. Ihre Blicke trafen sich. ,,Was wir hier machen, ist Unsinn. Du wolltest mir etwas über meinen Vater sagen.“
,,Ja. Natürlich. Ich habe etwas, das ich dir geben muss, aber es ist hier zu nass. Da geht es kaputt.“
Sanne fror zum Gotterbarmen, sie hätte sich liebend gern in einem gut geheizten Kaffeehaus verkrochen, aber sie schüttelte den Kopf. ,,Ich gehe mit dir in kein Lokal im Westen, und du gehst mit mir in keines im Osten.“
,,Das käme auf einen Versuch
an.“
,,Gib dir keine Mühe. Du würdest die ganze Zeit Gründe finden, um dich zu beklagen.“
Er überlegte. ,,Dann eben in der Mitte“, sagte er schließlich.
,,Auf neutralem Territorium.“
Sie zogen hinüber auf den Bahnhof Friedrichstraße, kauerten sich auf ein gemauertes Bänkchen zwischen Reisenden, die mit ihren Koffern an ihnen vorüberhasteten, und Bettlern und Streunern, die alle Zeit der Welt hatten. Viel wärmer war es hier nicht. Nur trockener und lauter.
Leute quetschten sich in eine Bahn, bis die Türen zuschwangen. Als sie anfuhr, griff Kelmi zögernd in seine Tasche und zog eine zusammengerollte Zeitschrift heraus. ,,Hier. Ich dachte, du hättest ein Recht darauf, das zu sehen. Vermutlich hat es wenig Sinn, gegen den Burda-Verlag, der dieses Schmierblatt herausgibt, zu klagen, aber wenn du es versuchen willst, würden wir – meine Freunde und ich – dir helfen.“
Suse sah auf das Titelblatt und starrte in ihr eigenes Gesicht. Ihr wurde schwindlig. ,,Volker Engel und Konsorten – die hausgemachten Widerstandskämpfer der DDR.“
Über dem ihren sah das Gesicht ihres Vaters sie an.
37
Juli
,,Ich will mit dir in den Urlaub fahren. Nach Italien. Umbrien. Da gibt es lauter entzückende Geschäfte und blaue Badeanzüge mit Punkten.“
Seit dem Tag, an dem er ihr den Artikel über ihren Vater gebracht hatte, waren sie wieder zusammen. Nicht so, als wäre nichts geschehen. Aber so, als könnte das, was geschehen war, nichts aufhalten. Sie wehrte sich. Er wehrte sich auf seine Art sicher auch. Sein Restaurant lief blendend, er hatte sich ein ansehnliches Leben
zurechtgezimmert und brauchte Sanne Engel aus Ostberlin darin so wenig wie sie ihn. Aber sooft sie mit dem Wehren aufhörten und einfach nachgaben, war etwas zwischen ihnen, das süchtig machte.
Er war im Frühjahr 1945 verschüttet worden, als eine amerikanische Bombe das Haus seiner Großeltern getroffen hatte. Er hatte nichts sehen können und doch gewusst, dass das, was neben ihm lag, alles war, was von Oma und Opa Piepenhagen und von dem Nachbarsjungen, den er zum Spielen eingeladen hatte, übrig war. In den endlosen Minuten, Stunden, Tagen und Nächten hatte ihn die Angst um den Verstand gebracht, bald ebenso zu liegen, vielleicht schon jetzt, ohne es zu merken, starr und tot, in der Welt der Lebenden vermisst, gesucht und kurz darauf vergessen. Als er schließlich entdeckt und befreit worden war, hatte er Wochen gebraucht, um zu begreifen, dass er tatsächlich noch lebte.
,,Ich habe deshalb nicht Arzt werden können, glaub ich“, hatte er ihr gestanden. ,,Sooft ich versuche, etwas zu tun, das ich nicht tun will, überfällt mich wieder dieses Gefühl, in der steinernen Falle gefangen zu sein und nicht mehr rauszukommen. Als würde mein zweites Leben zu mir sagen: Nutz mich gefälligst. Umsonst hast du mich nicht bekommen. So ist es jetzt mit dir. Ich habe dich ein zweites Mal bekommen, und das darf nicht umsonst gewesen sein. Ich will mit dir in den Urlaub fahren. Dass es unvernünftig ist, will ich nicht hören. Urlaub ist ja nie vernünftig. Trüffel auf frischen Eiernudeln servieren auch nicht. Wenn man nur Dinge täte, die vernünftig sind, bekäme man seine Einkommensteuererklärung ausgefüllt und sonst gar nichts. Und so was habt ihr hier noch nicht mal, oder? Das ist ja kapitalistisch. Umso besser. Bleibt euch mehr Zeit zur Unvernunft.“
,,Das glaubst du nicht ernsthaft, oder? Dass ich mit dir nach Italien fahre?“
,,Welches ist der Teil, den ich nicht ernsthaft glauben soll? Spricht etwas gegen Italien oder gegen mich?“
In der Illustrierten mit der Hetze gegen ihren Vater war Werbung für Urlaub in Italien gewesen. Bunte Zeichnungen von verliebten Paaren mit Sonnenhüten, Halstüchern und Ringelhemden, die in Gondeln standen, sich umringt von Taubenschwärmen küssten und auf einer Strandmauer mit den Beinen baumelten.
,,Gegen Italien kann gar nichts sprechen“, redete er weiter.
,,Ich glaube, ich habe bald keinen Bekannten mehr, der noch nicht dort war. Du und ich ausgenommen.“ Fortsetzung folgt