„Ausweisung wäre beispiellos gewesen“
Interview Ehemaliger deutscher Botschafter Martin Erdmann über diplomatisches Drama in der Türkei
Der diplomatische Eklat um die angedrohte Ausweisung von zehn Botschaftern aus der Türkei schlägt immer noch hohe Wellen. Zwar rückte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Montag von seinem Vorhaben ab, doch die Nachwirkungen des Vorfalls, von dessen Folgen auch der deutsche Botschafter betroffen gewesen wäre, könnten beträchtlich sein. Martin Erdmann, der bis 2020 selbst fünf Jahre lang deutscher Botschafter in der Türkei war, äußert sich zu dem diplomatischen Drama, Präsident Erdogans Handeln und zur Lage in der Türkei auch im Hinblick auf eine EU-Mitgliedschaft.
Herr Erdmann, wie bewerten Sie das Verhalten von Präsident Erdogan in der Botschafter-Causa und dass er letztendlich eingelenkt hat? Erdmann: Die Ausweisung von zehn Botschaftern, darunter sieben Nato-Botschafter, also Verbündeten, wäre in der jüngeren Geschichte ein beispielloser Vorgang gewesen. Glücklicherweise hat der türkische Präsident sich eines Besseren besonnen und das Thema vom Tisch genommen. Die Motive dahinter sind schwer von außen zu ergründen. Naheliegend ist, dass der Preis dieser Ausweisung sehr hoch gewesen wäre und sich die türkische Führung dies klar gemacht hat, sodass sie von dem Vorhaben abgelassen hat.
Was meinen Sie genau? Erdmann: Die wirtschaftliche Seite ist das eine, aber der politische Schaden scheint mir noch viel wichtiger zu sein. Die zehn Hauptstädte wären ja gezwungen gewesen zu reagieren – aus Gründen der Selbstachtung und aus Gründen des Respekts für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
– mit einer Reaktion auf Augenhöhe. Damit wäre eine Eskalationsspirale eingeleitet worden, von der niemand weiß, wo sie geendet hätte. Und ich glaube, auch diese Perspektive, dass sich die türkische Seite da in eine dauerhafte diplomatisch-politische Auseinandersetzung begibt, hat am Ende zur Einsicht geführt.
Verpasst dieses Umschwenken Erdogans seinem Image als starker Mann eine Delle? Erdmann: Ich habe am Dienstagmorgen mit Ankara telefoniert, mit einigen mir bekannten Repräsentanten, und die bestätigen das Gegenteil. Es sei über Nacht zu zahlreichen positiven Tweets in den sozialen Medien gekommen, die die Entscheidung des Präsidenten begeistert entgegengenommen haben. Ich glaube, dass Erdogan innenpolitisch mit diesem Schachzug als Sieger vom Platz geht. Aber nicht außenpolitisch. Ich glaube, dass sein Renommee mindestens in den zehn Hauptstädten, aber wahrscheinlich weit darüber hinaus aufgrund dieser beispiellosen Ausweisungskampagne doch Schaden genommen hat, insbesondere was seine Glaubwürdigkeit betrifft.
Der jährlich veröffentlichte Türkei-Bericht der Europäischen Kommission konstatiert, dass die Türkei mit ihrem Profil derzeit nicht in die EU passt. Kritisiert wird der Zustand der Demokratie. Wie sehen Sie die
Beitritts-Chancen der Türkei? Erdmann: Der sogenannte Fortschrittsbericht, der in Wirklichkeit ein Rückschrittsbericht ist, zeigt ja all die Schwachstellen auf. Das ist der Grund, warum vor zwei Jahren der EU-Beitrittsprozess auf Eis gelegt wurde. Und man muss auch hinzufügen, dass von allen Kapiteln, die seit dem Beginn der Verhandlungen im Jahr 2005 eröffnet worden sind, noch nicht ein einziges geschlossen ist. Das heißt, dass es keinerlei Fortschritt gibt. Und das ist darauf zurückzuführen, dass sich das System Erdogan und damit die Türkei immer weiter von europäischen Standards entfernt.
Wie haben Sie persönlich Präsident Erdogan in Ihrer Zeit als deutscher Botschafter in Ankara erlebt?
Erdmann: Das waren sehr schwierige Jahre, da das türkisch-deutsche Verhältnis doch einem Zerwürfnis sehr nahekam. Das hatte unterschiedlichste Gründe, aber es war eine Zeit der schwierigsten bilateralen Beziehungen. Hinsichtlich des Präsidenten kann ich sagen, dass ich ihn immer als eine sehr tatkräftige, sehr charismatische Führungspersönlichkeit erlebt habe. Und das ist auch der Grund dafür, dass er sich über 20 Jahre an der Macht halten konnte, weil die Menschen ihn verehren, auch wenn sie seine Partei und deren Funktionäre zunehmend weniger schätzen.
@ Das vollständige Interview auf www.NWZonline.de/politik