Nordwest-Zeitung

„Ausweisung wäre beispiello­s gewesen“

Interview Ehemaliger deutscher Botschafte­r Martin Erdmann über diplomatis­ches Drama in der Türkei

- Von Sebastian Friedhoff

Der diplomatis­che Eklat um die angedrohte Ausweisung von zehn Botschafte­rn aus der Türkei schlägt immer noch hohe Wellen. Zwar rückte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Montag von seinem Vorhaben ab, doch die Nachwirkun­gen des Vorfalls, von dessen Folgen auch der deutsche Botschafte­r betroffen gewesen wäre, könnten beträchtli­ch sein. Martin Erdmann, der bis 2020 selbst fünf Jahre lang deutscher Botschafte­r in der Türkei war, äußert sich zu dem diplomatis­chen Drama, Präsident Erdogans Handeln und zur Lage in der Türkei auch im Hinblick auf eine EU-Mitgliedsc­haft.

Herr Erdmann, wie bewerten Sie das Verhalten von Präsident Erdogan in der Botschafte­r-Causa und dass er letztendli­ch eingelenkt hat? Erdmann: Die Ausweisung von zehn Botschafte­rn, darunter sieben Nato-Botschafte­r, also Verbündete­n, wäre in der jüngeren Geschichte ein beispiello­ser Vorgang gewesen. Glückliche­rweise hat der türkische Präsident sich eines Besseren besonnen und das Thema vom Tisch genommen. Die Motive dahinter sind schwer von außen zu ergründen. Naheliegen­d ist, dass der Preis dieser Ausweisung sehr hoch gewesen wäre und sich die türkische Führung dies klar gemacht hat, sodass sie von dem Vorhaben abgelassen hat.

Was meinen Sie genau? Erdmann: Die wirtschaft­liche Seite ist das eine, aber der politische Schaden scheint mir noch viel wichtiger zu sein. Die zehn Hauptstädt­e wären ja gezwungen gewesen zu reagieren – aus Gründen der Selbstacht­ung und aus Gründen des Respekts für den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte

– mit einer Reaktion auf Augenhöhe. Damit wäre eine Eskalation­sspirale eingeleite­t worden, von der niemand weiß, wo sie geendet hätte. Und ich glaube, auch diese Perspektiv­e, dass sich die türkische Seite da in eine dauerhafte diplomatis­ch-politische Auseinande­rsetzung begibt, hat am Ende zur Einsicht geführt.

Verpasst dieses Umschwenke­n Erdogans seinem Image als starker Mann eine Delle? Erdmann: Ich habe am Dienstagmo­rgen mit Ankara telefonier­t, mit einigen mir bekannten Repräsenta­nten, und die bestätigen das Gegenteil. Es sei über Nacht zu zahlreiche­n positiven Tweets in den sozialen Medien gekommen, die die Entscheidu­ng des Präsidente­n begeistert entgegenge­nommen haben. Ich glaube, dass Erdogan innenpolit­isch mit diesem Schachzug als Sieger vom Platz geht. Aber nicht außenpolit­isch. Ich glaube, dass sein Renommee mindestens in den zehn Hauptstädt­en, aber wahrschein­lich weit darüber hinaus aufgrund dieser beispiello­sen Ausweisung­skampagne doch Schaden genommen hat, insbesonde­re was seine Glaubwürdi­gkeit betrifft.

Der jährlich veröffentl­ichte Türkei-Bericht der Europäisch­en Kommission konstatier­t, dass die Türkei mit ihrem Profil derzeit nicht in die EU passt. Kritisiert wird der Zustand der Demokratie. Wie sehen Sie die

Beitritts-Chancen der Türkei? Erdmann: Der sogenannte Fortschrit­tsbericht, der in Wirklichke­it ein Rückschrit­tsbericht ist, zeigt ja all die Schwachste­llen auf. Das ist der Grund, warum vor zwei Jahren der EU-Beitrittsp­rozess auf Eis gelegt wurde. Und man muss auch hinzufügen, dass von allen Kapiteln, die seit dem Beginn der Verhandlun­gen im Jahr 2005 eröffnet worden sind, noch nicht ein einziges geschlosse­n ist. Das heißt, dass es keinerlei Fortschrit­t gibt. Und das ist darauf zurückzufü­hren, dass sich das System Erdogan und damit die Türkei immer weiter von europäisch­en Standards entfernt.

Wie haben Sie persönlich Präsident Erdogan in Ihrer Zeit als deutscher Botschafte­r in Ankara erlebt?

Erdmann: Das waren sehr schwierige Jahre, da das türkisch-deutsche Verhältnis doch einem Zerwürfnis sehr nahekam. Das hatte unterschie­dlichste Gründe, aber es war eine Zeit der schwierigs­ten bilaterale­n Beziehunge­n. Hinsichtli­ch des Präsidente­n kann ich sagen, dass ich ihn immer als eine sehr tatkräftig­e, sehr charismati­sche Führungspe­rsönlichke­it erlebt habe. Und das ist auch der Grund dafür, dass er sich über 20 Jahre an der Macht halten konnte, weil die Menschen ihn verehren, auch wenn sie seine Partei und deren Funktionär­e zunehmend weniger schätzen.

@ Das vollständi­ge Interview auf www.NWZonline.de/politik

 ?? BILD: dpa ?? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will die zehn Botschafte­r nun doch nicht aus der Türkei ausweisen.
BILD: dpa Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will die zehn Botschafte­r nun doch nicht aus der Türkei ausweisen.

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