WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
144. Fortsetzung
„Micha fährt nach Neapel. Sie ist im buchstäblich letzten Augenblick Arturo begegnet, der als Gastarbeiter hier ist und froh, dass er in ihrem Käfer mit- fahren kann.“
,,Mussolini hat den Faschismus in Europa salonfähig gemacht“, sagte Sanne.
,,Ich bin mir ziemlich sicher, der ist nicht mehr da. Ein Badeanzug mit blauen Punkten hätte dem nicht gestanden. Dafür aber dir.“
Der Sommer war feuchtkalt, die Hälfte der Ferien schon vorüber. Etwas an dem Gedanken war unendlich reizvoll.
,,Hast du dir überlegt, dass es mich meine Stellung kosten könnte, wenn ich so einfach mit dir nach Italien fahre? Und was macht dich eigentlich so sicher, dass ich dorthin will? Dass es da Kunstschätze und Naturschönheiten gibt, die man nicht versäumen darf? Die gibt es nicht nur in Ländern des westlichen Machtblocks und früheren Faschistenstaaten.
Eine Kollegin von mir war zum Beispiel in der Tschechoslowakei, im Böhmerwald, wo zwischen Hochmooren die Moldau entspringt. Sie hat uns Bilder von den Nebeln gezeigt, die aus diesen Mooren steigen. Meinst du, weil das Land von Sozialisten regiert wird, kann es an Schönheit mit deinem Italien nicht mithalten?“
,,Liebe Güte, Susu.“Seine Augen lachten sie an. ,,Ich will mit dir verreisen. Tag und Nacht mit dir zusammen sein, Hand in Hand mit dir vor einem Wunder stehen, abends in einer lauschigen Kaschemme Wein trinken und einheimische Köstlichkeiten probieren, du von meinem Teller und ich von deinem. Ich hab keinen Werbevertrag mit dem italienischen Fremdenverkehrsamt. Wenn du da nicht hinwillst, fahren wir meinetwegen in die moorig vernebelte Tschechoslowakei.“
Sie fuhren nach Rumänien, das jüngst der UNESCO beigetreten war. In einen Ort namens Eforie, der am Schwarschlimm. zen Meer lag. Eine Bekannte aus dem Frauenbund, die die Reise nicht antreten konnte, war dankbar, dass Sanne ihr den Platz abkaufte, und Kelmi buchte über ein westliches Reisebüro Zugfahrt und Zimmer im selben Hotel. Sein Restaurant schloss er für zwei Wochen. ,,Noch vor drei Monaten habe ich laut herumposaunt, das würde ich höchstens über meine Leiche tun.“
Die Reise dauerte endlos, sie wechselten fünfmal den Zug und wurden unaufhörlich kontrolliert. Das Hotel war ein scheußlicher Betonriese und in Flügel für Urlauber aus dem Westen und solche aus dem Osten geteilt. Kelmi war schockiert darüber, wie winzig sein Zimmer war. Das von Sanne war nicht einmal halb so groß, und das Bad auf ihrer Etage stank.
Am schlimmsten war das Essen. Es wurde im Erdgeschoss des Hotels in einem riesigen Saal mit schmutzigen Glasscheiben serviert, der an eine Wartehalle erinnerte. Eine Karte gab es nicht, keine Wahlmöglichkeiten, wie Kelmi sie gewohnt war, sondern eine feste Speisefolge, drei Gänge, die von überforderten Kellnern vor die Gäste auf den Tisch geknallt wurden. Eine saure Suppe, in der etwas schwamm, das wie schon einmal gegessen aussah. Ein Nudelgericht mit einer Art Quark als Soße, die Nudeln verkocht und der Quark versalzen, und zum Abschluss ein mit Sirup übersüßter Eisschnee, der in sich zusammenfiel.
,,Ich kann das nicht essen“, behauptete Kelmi. ,,Mein Magen tritt in den Generalstreik.“
Sanne fand es nicht so
Was ihr zusetzte, waren die Gesichter der Einheimischen, die sich vor den Scheiben versammelt hatten und ihnen auf die Teller starrten. Sie konnte auch nichts essen. Ehe der erste Ferientag zu Ende war, hatten sie sich dreimal gestritten.
Dann aber legte Kelmi das Besteck, mit dem er in dem weißlichen Brei herumgestochert hatte, nieder und nahm Sannes Hände. ,,Komm“, sagte er leise. ,,Wir gehen. Irgendwo wird im Ort bestimmt Gebäck verkauft, das warm und frisch ist und in den Händen blättert, und irgendwo anders gibt es einen Keller, in dem ich mit dir sitzen und dunkelroten Wein trinken kann. Das hier ist unser Urlaub. Den lassen wir uns nicht verderben.“
Dass sie das Essen, nach dem die Menschen vor den Scheiben gierten, stehen ließen, tat Sanne weh, aber sie ging dennoch mit ihm. Der Strand hatte sich geleert. Er war breit und schneeweiß, und das Meer war wahrhaftig schwarzblau und rollte mit dem Wind. Es war so warm, dass Kelmi sich die Hemdsärmel aufrollte, und dass sie Gebäck hatten kaufen und Wein trinken wollen, vergaßen sie.
Er zog sich Schuhe und Socken aus, und als sie sich sträubte, hob er sie einfach in die Höhe und stolperte mit ihr ein paar Schritte weit in die Wellen. Ein spitzer Schrei entfuhr ihm.
,,Himmel und Hölle. Haben die da die Eiswürfel reingeworfen, die im Trinkwasser fehlten?“
Sanne zappelte, er zog ihr die Schuhe von den Füßen und stellte sie neben sich nieder. Sie schrie so laut wie er. Das Wasser war wirklich wie Eis, es machte ihre Füße taub.
,,Morgen gehen wir hier schwimmen. Wenn wir rauskommen, glitzern wir, weil wir zu Eis gefroren sind, und die Leute vom Hotel stellen uns in der Vorhalle aus: Kunst am Bau. Die Liebenden vom Eismeer.“