WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
Sie musste lachen. Vor Kälte und weil der Augenblick so verrückt und schön war. ,,Woher kommt dir eigentlich dieses ganze sinnlose Zeug, das du von dir gibst?“
Er nahm sie bei den Schultern, zog sie zu sich und sah ihr ernst in die Augen. ,,Ich bin Don Bettyr, der Meeresgott“, raunte er dunkel. ,,Woher mir meine Kräfte kommen, zeige ich dir heute Nacht.“
Der Himmel über ihnen war übersät von Sternen, ihr Licht von keiner Stadtnähe abgeschwächt, und zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren sah Sanne, wie er sich wölbte. Damals war sie mit ihren Eltern an der Ostsee gewesen, und später hatten sie sich an all den Reisen entlanggeträumt, die sie machen wollten, wenn Krieg und Hitler vorbei waren. Einmal um die Welt. Jetzt war sie hier und sah wie damals bis zum Horizont.
,,Danke, dass du mit mir hergekommen bist“, sagte Kelmi.
,,Danke, dass du mich überredet hast.“
Dass Urlauber aus dem Osten den Trakt der Urlauber aus dem Westen betraten, war verboten, aber Kelmi überredete sie, darauf zu pfeifen. Sie zog zu ihm. Kein Mensch kontrollierte. Er nannte sein Zimmer eine Schuhschachtel, doch seit sie zu zweit darin waren, fand er die Enge schön. Es hatte eine eigene Nasszelle mit Toilette und Waschbecken, auch wenn man sich darin besser nicht drehte, und den weltschmalsten Balkon, auf dem sie nebeneinanderstehen und aus dem siebenten Stock über Strand und Meer sehen konnten.
Der Versuch, im Ort einzukaufen, offenbarte, dass es Länder gab, gegen die die DDR ein Schlaraffenland war. Die meisten Läden waren verrammelt. Sie hatten nichts zu verkaufen. Kelmi trieb dennoch einen gewieften Bauern auf, der bereit war, ihm für seine West-Devisen Waren zu beschaffen und auf seinem Eselskarren in den Ort zu fahkeit ren. Cascaval, einen harten, scharf gewürzten Schafskäse, dunkel geräuchertes Rindfleisch, das in einer Paprikakruste gegart und hauchdünn aufgeschnitten wurde, eine Paste aus Avocados, süße gelbliche Pflaumen und Tuica, den Schnaps, der daraus gemacht wurde. Dazu Wein in Korbflaschen mit Griffen dran.
Sanne hatte protestiert, sie wolle sich nicht durch sein Geld verschaffen, was den Einheimischen versagt blieb, aber Kelmi hatte sie in die Arme genommen und gebeten: ,,Du hast recht, aber lass es uns das eine Mal vergessen, ja? Lass uns nur diese zwei Wochen lang an nichts und niemanden denken, nicht an gestern, nicht an morgen, nur an heute und dich und mich.“
Statt in das Restaurant zu gehen, tischte er ihnen auf einem weißen Betttuch ein Picknick auf. Sie fuhren nach Constanta, der von Tartaren geprägten Hafenstadt, spazierten Hand in Hand die Promenade hinunter, besichtigten römische Ruinen, die kein Krieg zerschmettert, sondern denen allmählicher Verfall in zweitausend Jahren eine neue Form gegeben hatte. Sie lagen zwischen Scharen weiterer Urlauber, kreischenden Kindern und Burgen bauenden Vätern am Sandstrand und schwammen in dem eiskalten Meer.
Schwimmen konnte man es kaum nennen. Die Kraft der Wellen, die nicht einmal hoch wirkten, war gewaltig und drohte, sie mit sich hinaus zu reißen. Ein kleiner Junge lief mit seinem Schwimmreifen hinein, den ihm das Meer aus den Händen schnappte und in erschreckender Geschwindigdavon schwemmte. Fassungslos sah der Kleine dem bunten Ring nach, der auf den Wellen tanzte und sich unwiederbringlich entfernte.
,,Das bricht mir das Herz“, sagte Kelmi. Sie rannten den gesamten Strand hinunter, bis sie eine Bude fanden, von deren Vordach Wasserspielzeug und Schwimmreifen hingen. Kelmi kaufte einen gelben mit einem Pferdekopf. Als sie zurückkamen, war der kleine Junge am Ufer nicht länger zu entdecken, aber Kelmi fand ihn hinter einem Sonnensegel, wo er in seiner Badehose, der kleine Körper mit Sand bedeckt, stand und weinte. Seine Mutter redete auf ihn ein und war sichtlich kurz davor, die Geduld zu verlieren. Sie sprachen in einer Sprache, die weder Kelmi noch Sanne verstand. Kelmi reichte den Pferdereifen über das Segel in die Sandburg und nickte dem Jungen mit einem Grinsen zu. Der griff mit beiden Händen danach und stieß einen hohen Laut wie ein glücklicher kleiner Singvogel aus.
,,Gehen wir.“Kelmi nahm Sannes Arm. ,,Ehe es zu Diskussionen oder Peinlichkeiten kommt.“
,,Du magst Kinder gern?“, fragte Sanne, während sie über den Strand davongingen.
Kelmi zuckte die Schultern und wirkte auf einmal verloren.
,,Ich glaube, ich sehe in jedem Jungen den kleinen Axel.“Er wischte sich über das Gesicht, wie um die hilflose Miene abzureiben. ,,Aber wir wollten die Geister ja zu Hause lassen.“
Er konnte es nicht. So wenig wie sie. Die Sonne hatte sein Gesicht gebräunt, er war ein hübscher, kräftiger, gesunder Mann, nach dem die Mädchen in den knappen Badeanzügen sich umdrehten, aber um seine Augen war eine Blässe, die dort bleiben würde.
Wir sind die Generation mit den Leichen im Keller.
Ihr wurde etwas klar. Ihre Arme schlossen sich um seine Taille. ,,Ich liebe dich.“