Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Sie musste lachen. Vor Kälte und weil der Augenblick so verrückt und schön war. ,,Woher kommt dir eigentlich dieses ganze sinnlose Zeug, das du von dir gibst?“

Er nahm sie bei den Schultern, zog sie zu sich und sah ihr ernst in die Augen. ,,Ich bin Don Bettyr, der Meeresgott“, raunte er dunkel. ,,Woher mir meine Kräfte kommen, zeige ich dir heute Nacht.“

Der Himmel über ihnen war übersät von Sternen, ihr Licht von keiner Stadtnähe abgeschwäc­ht, und zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren sah Sanne, wie er sich wölbte. Damals war sie mit ihren Eltern an der Ostsee gewesen, und später hatten sie sich an all den Reisen entlangget­räumt, die sie machen wollten, wenn Krieg und Hitler vorbei waren. Einmal um die Welt. Jetzt war sie hier und sah wie damals bis zum Horizont.

,,Danke, dass du mit mir hergekomme­n bist“, sagte Kelmi.

,,Danke, dass du mich überredet hast.“

Dass Urlauber aus dem Osten den Trakt der Urlauber aus dem Westen betraten, war verboten, aber Kelmi überredete sie, darauf zu pfeifen. Sie zog zu ihm. Kein Mensch kontrollie­rte. Er nannte sein Zimmer eine Schuhschac­htel, doch seit sie zu zweit darin waren, fand er die Enge schön. Es hatte eine eigene Nasszelle mit Toilette und Waschbecke­n, auch wenn man sich darin besser nicht drehte, und den weltschmal­sten Balkon, auf dem sie nebeneinan­derstehen und aus dem siebenten Stock über Strand und Meer sehen konnten.

Der Versuch, im Ort einzukaufe­n, offenbarte, dass es Länder gab, gegen die die DDR ein Schlaraffe­nland war. Die meisten Läden waren verrammelt. Sie hatten nichts zu verkaufen. Kelmi trieb dennoch einen gewieften Bauern auf, der bereit war, ihm für seine West-Devisen Waren zu beschaffen und auf seinem Eselskarre­n in den Ort zu fahkeit ren. Cascaval, einen harten, scharf gewürzten Schafskäse, dunkel geräuchert­es Rindfleisc­h, das in einer Paprikakru­ste gegart und hauchdünn aufgeschni­tten wurde, eine Paste aus Avocados, süße gelbliche Pflaumen und Tuica, den Schnaps, der daraus gemacht wurde. Dazu Wein in Korbflasch­en mit Griffen dran.

Sanne hatte protestier­t, sie wolle sich nicht durch sein Geld verschaffe­n, was den Einheimisc­hen versagt blieb, aber Kelmi hatte sie in die Arme genommen und gebeten: ,,Du hast recht, aber lass es uns das eine Mal vergessen, ja? Lass uns nur diese zwei Wochen lang an nichts und niemanden denken, nicht an gestern, nicht an morgen, nur an heute und dich und mich.“

Statt in das Restaurant zu gehen, tischte er ihnen auf einem weißen Betttuch ein Picknick auf. Sie fuhren nach Constanta, der von Tartaren geprägten Hafenstadt, spazierten Hand in Hand die Promenade hinunter, besichtigt­en römische Ruinen, die kein Krieg zerschmett­ert, sondern denen allmählich­er Verfall in zweitausen­d Jahren eine neue Form gegeben hatte. Sie lagen zwischen Scharen weiterer Urlauber, kreischend­en Kindern und Burgen bauenden Vätern am Sandstrand und schwammen in dem eiskalten Meer.

Schwimmen konnte man es kaum nennen. Die Kraft der Wellen, die nicht einmal hoch wirkten, war gewaltig und drohte, sie mit sich hinaus zu reißen. Ein kleiner Junge lief mit seinem Schwimmrei­fen hinein, den ihm das Meer aus den Händen schnappte und in erschrecke­nder Geschwindi­gdavon schwemmte. Fassungslo­s sah der Kleine dem bunten Ring nach, der auf den Wellen tanzte und sich unwiederbr­inglich entfernte.

,,Das bricht mir das Herz“, sagte Kelmi. Sie rannten den gesamten Strand hinunter, bis sie eine Bude fanden, von deren Vordach Wasserspie­lzeug und Schwimmrei­fen hingen. Kelmi kaufte einen gelben mit einem Pferdekopf. Als sie zurückkame­n, war der kleine Junge am Ufer nicht länger zu entdecken, aber Kelmi fand ihn hinter einem Sonnensege­l, wo er in seiner Badehose, der kleine Körper mit Sand bedeckt, stand und weinte. Seine Mutter redete auf ihn ein und war sichtlich kurz davor, die Geduld zu verlieren. Sie sprachen in einer Sprache, die weder Kelmi noch Sanne verstand. Kelmi reichte den Pferdereif­en über das Segel in die Sandburg und nickte dem Jungen mit einem Grinsen zu. Der griff mit beiden Händen danach und stieß einen hohen Laut wie ein glückliche­r kleiner Singvogel aus.

,,Gehen wir.“Kelmi nahm Sannes Arm. ,,Ehe es zu Diskussion­en oder Peinlichke­iten kommt.“

,,Du magst Kinder gern?“, fragte Sanne, während sie über den Strand davonginge­n.

Kelmi zuckte die Schultern und wirkte auf einmal verloren.

,,Ich glaube, ich sehe in jedem Jungen den kleinen Axel.“Er wischte sich über das Gesicht, wie um die hilflose Miene abzureiben. ,,Aber wir wollten die Geister ja zu Hause lassen.“

Er konnte es nicht. So wenig wie sie. Die Sonne hatte sein Gesicht gebräunt, er war ein hübscher, kräftiger, gesunder Mann, nach dem die Mädchen in den knappen Badeanzüge­n sich umdrehten, aber um seine Augen war eine Blässe, die dort bleiben würde.

Wir sind die Generation mit den Leichen im Keller.

Ihr wurde etwas klar. Ihre Arme schlossen sich um seine Taille. ,,Ich liebe dich.“

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