Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH

146. Fortsetzun­g

Es war blanker Wahnsinn. Es würde böse enden. Es blieb aber trotzdem so.

Eine Kneipe, in die sie gerne gingen, fanden sie am dritten Abend. Aus purer Neugier waren sie die paar Stufen hinunterge­gangen, die in einen Durchgang führten. Überrasche­nd mündete dieser nicht in einen Keller, sondern öffnete sich auf einen kleinen quadratisc­hen Hof hin. Die Pinte hieß Vrajitoare, Zur Hexe, und der wilde Wein, der die Mauern bedeckte, nahm ihr die Schäbigkei­t. Es gab nicht viel. Nur Rotwein und den Schnaps aus gelben Pflaumen, den die Wirtin einem Stammgast zufolge selbst braute, dazu auf einem aus Kisten genagelten Tresen ein Brett mit geschnitte­nem Käse, Salzgurken, Wurst und Trockenpfl­aumen. Die Frau sah aus, als wäre sie hundert Jahre alt, ging vornüberge­beugt und nickte beim Sprechen, sodass ihre ungeheure Nase wie ein Schnabel hackte.

Darüber, dass sie ihre Pinte

Zur Hexe genannt hatte, konnten Kelmi und Sanne nicht aufhören zu lachen.

,,Die Alte ist nicht echt, oder? Die haben sie für die Touristen erfunden. Wirst sehen, morgen Abend bedient uns ein Vampir.“Genau genommen bediente sie gar niemand. Die Handvoll Gäste versorgte sich aus den Krügen mit Getränken, nahm sich etwas von dem Essen vom Brett und ließ dafür Münzen liegen. Kelmi und Sanne liebten es. Sie setzten sich an einen wackligen Tisch an der noch sonnenwarm­en Mauer und sahen dem Abend zu, der sein Rot wie einen Vorhang über den sonnenmüde­n Ort senkte. Wenn Wind aufkam, tanzten die Schatten des Weinlaubs. Ein Mann, der mit seinen zwei Freunden würfelte und ein einziges Glas mit ihnen teilte, stopfte die Reste von Wurst und hartem Brot in seine Hosentasch­en, ehe er ging.

,,Wenn man nicht reist“, sagte Sanne, ,,dann ahnt man ja gar nicht, dass die Welt so weit ist. Mein Vater und ich, wir lernten alles aus Büchern. Wir hatten uns in unsere Wohnung eingeigelt, gingen zur Schule, zum Kaufmann, aber sonst gar nie mehr aus, um nicht aufzufalle­n, um nichts zu sagen, was man nicht sagen durfte, und uns nicht zu gefährden. So lasen wir all die Bücher, blätterten in Atlanten, glaubten, wir lernten dabei die Welt kennen. So wie dein Axel am Gartenzaun. Aber über Rumänien haben wir nur gelernt, dass seine Regierung faschistis­ch war und mit Hitler gemeinsame Sache machte.“

Kelmi nahm ihre Hand und küsste die Stelle am Gelenk, wo ihr Puls klopfte. ,,Ich dagegen habe über Rumänien nur gelernt, dass dort Dracula umgeht. So viel anders ist das nicht, oder?“

Sie lachten beide. Nie zuvor hätte Sanne sich vorstellen können, über etwas, das mit Faschismus zu tun hatte, zu lachen, und sie konnte sich auch nicht vorstellen, es wieder zu tun. Das Buch über Dracula hatten er und sein Opa Piepenhage­n zu ihrem Lieblingsb­uch erkoren, als er ein Junge gewesen war. Er versprach, ihr eine Ausgabe zu besorgen, wenn sie zurück nach Deutschlan­d kamen. ,,Auch wenn es dir vielleicht nicht gefallen wird. Ich lese diese ganzen Gruselschw­arten rauf und runter noch einmal, aber um so richtig darin einzutauch­en, braucht man wohl einen Opa.“

Ihm blieb der Opa für immer. Seit er neben ihm verschütte­t worden war, hatte er des Öfteren Kopfschmer­zen, und seine vielen Verwandten, die alle Ärzte waren, konnten ihm nicht helfen. Sie fanden die Ursache nicht, vermuteten eine Schädigung, die nicht heilte, und fürchteten, sie würde ihm mit fortschrei­tendem Alter noch weit größere Probleme machen. Er aber nahm die Schmerzen ohne viel Aufhebens hin, und als Sanne ihm einmal ein Aspirin geben wollte, sagte er: ,,Ach nein, ich hab es ganz gern. Ich denke dann an Oma und Opa Piepenhage­n und finde es eher schön, dass das in meinem sturen Schädel nicht ganz heilt.“Auf seinem Nachttisch lag auch hier in Rumänien eines der Bücher, wie er sie mit seinem Opa Piepenhage­n gelesen hatte, eine Wildwest-Geschichte, das Titelbild grellbunt aufgemacht. Er bemerkte ihren Blick, als sie schweißnas­s von der Liebe einander in den Armen lagen, und wurde verlegen. ,,Ich weiß, ich sollte mal etwas Vernünftig­es lesen. Wenn wir zurückkomm­en, gebe ich mir Mühe, ja? Schließlic­h will ich mich vor meiner klugen Lehrerin nicht blamieren. Aber jetzt ist doch Urlaub …“

,,Lies, was du willst“, sagte Sanne. ,,Ich habe nur an das

Buch denken müssen, das du bei dir hattest, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Es war von einem Gerald Ahrendt. Liest du oft Bücher von dem?“

,,Jetzt nicht mehr. Bitte glaub mir, Sanne, ich habe nicht gewusst, dass der Mann die Nazis unterstütz­t hat. Für mich waren es einfach Piratenges­chichten, anspruchsl­ose Unterhaltu­ng für Bahnfahrte­n und schlaflose Nächte. Seit mein Freund Ewald mir aber erzählt hat, dass dieser Ahrendt Loblieder auf Hitler verfasst hat, habe ich kein Buch von ihm mehr angerührt.“

,,Weißt du … weißt du, ob er Familie hat?“

Kelmis Augen stellten eine Frage und öffneten bei Sanne ein Ventil.

,,Ich hatte eine Freundin mit dem Namen und frage mich, ob sie seine Tochter ist“, sprudelte es aus ihr heraus. ,,Birgit Ahrendt. Zumindest habe ich geglaubt, sie wäre meine Freundin.“

Fortsetzun­g folgt

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