James Joyce: Dubliner (1914)
Eine Reihe von 15 Erzählungen, der Schauplatz ist stets derselbe: Dublin. Die Stadt, die den Autor James Joyce mit einem Feiertag ehrt, vermutlich dem einzigen, der einem Roman gewidmet ist: Bloomsday, zum Gedenken an den 16. Juni 1904, an dem Joyce die Hauptfigur seines „Ulysses“, Leopold Bloom, durch Dublin stromern lässt.
Ursprünglich war dieser Tausend-Seiten-Stoff für eine der „Dubliner“-Erzählungen vorgesehen. Im Vergleich zum Roman lesen die sich leicht. Episoden aus dem Leben in seiner Vaterstadt, oder, laut Joyce, eine „Bloßstellung der Seele jener Paralyse, die viele für eine Stadt halten.“
Das klingt nach Michel Houellebecq, doch Autoren sind selten die besten Interpreten ihrer Werke. Beim Lesen wird man eher an Tschechow denken: die Form ist unprätentiös, der Ton unpathetisch, dem trivialen Personal angepasst. Die Ausgangssituationen sind unspektakulär, ihre Entwicklung ist selten dramatisch. Ironisch führt Joyce uns all das vor, was ihn an seinen Landsleuten stört. Wie Tschechow hat er ein ausgeprägtes Gefühl für die Peinlichkeit, die auch im ausgesprochenen Kummer liegen kann.
Eine Ausnahme macht die letzte Geschichte, Joyce’ frühes Meisterwerk: „Die Toten“. Ein Ehepaar, Gretta und Gabriel, besucht eine Weihnachtsgesellschaft. Die Tischgespräche werden heikel, Risse perforieren das dünne Eis der Konvention, das notdürftig standhält. Zum Abschied singt ein Tenor ein Lied, das Gretta an ihre erste große, unglückliche Liebe erinnert. Gabriel überwindet die Kränkung, und Joyce nutzt die Gelegenheit, sentimental zu werden und einen der schönsten Schlusssätze der Literaturgeschichte zu schreiben: „Langsam schwand seine Seele, als er den Schnee leise durch das Universum fallen hörte, leise herabfallen hörte wie das Nahen ihrer letzten Stunde, auf alle Lebendigen und Toten.“
Das Buch: James Joyce: Dubliner (1914). Die Kolumne „Ein Jahrhundert – 100 Bücher“erscheint regelmäßig exklusiv in dieser Zeitung. Alle Folgen zum Nachlesen sind zu finden unter
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