Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- Fortsetzun­g folgt ROMAN VON CHARLOTTE ROTH

147. Fortsetzun­g

„Wir hatten nicht viel gemeinsam, das habe ich zum Schluss selbst begriffen. Aber sie war für mich da, als ich Unter den Linden, in den Trümmern, die ich wegschaffe­n wollte, zusammen- gebrochen bin. Sie hat sich einfach neben mich gekniet, und wir haben uns aneinander festgehalt­en. ›Ich weiß, es ist schlimm‹, hat sie gesagt. ›Besser wird es wohl auch nicht. Aber wenigstens sind wir nicht ganz allein.‹“

Er strich ihr schweres Haar zurück, breitete es auf dem Kissen aus, ohne den Blick von ihr zu wenden. ,,Und dann, Susu? Was ist dann mit euch passiert?“

,,Sie war auf mich angesetzt. Von Anfang an.“Stockend erzählte sie ihm das wenige, das sie wusste. Dass Birgit eine Agentin gewesen war, die ihr über Jahre Freundscha­ft vorgeheuch­elt hatte, um an Informatio­nen über Eugen und vor allem über Becher zu kommen. Über Becher, der jetzt abgesägt war, nur noch wie eine Galionsfig­ur nutzlos in seinem Sessel saß. Die Informatio­nen, für die Birgit ihre Freundscha­ft verkauft hatte, waren vermutlich keinen Pfennig mehr wert.

Es war noch immer hart. Unbegreifl­ich. Was sie ihm noch erzählte, hatte sie bisher nicht einmal vor sich selbst eingestand­en:

,,In der Nazizeit war es so schwierig, Freunde zu haben. Man wusste nie, wem man trauen durfte, und die Welt, in der wir uns bewegten, wurde immer kleiner. Wir haben noch immer zu vielen vertraut. Otti, der Nachbarsju­nge, der für mich wie ein großer Bruder war und dem ich all meine albernen Kindergehe­imnisse anvertraut habe, ist der Mann, der meinen Vater verraten hat.“

Kelmi nahm ihre Hand. ,,Er hat verraten, dass dein Vater diese Flugblätte­r verteilt hat, richtig? Die Zettel, auf denen stand: ›Der Krieg ist verloren. Verweigert den Mördern endlich den Gehorsam. Geht nicht zum Volkssturm.‹?“

Über die Einzelheit­en wusste Kelmi bald besser Bescheid als Sanne. Mit seinen Freunden und einem Rechtsanwa­lt, der in sein Restaurant zum Essen kam, trug er Fakten zusammen, um eine Klage gegen die Zeitschrif­t anzustrebe­n, die behauptet hatte, ihr Vater habe die Flugblätte­r nie geschriebe­n. Das Ansinnen war aussichtsl­os. Der Anwalt riet davon ab. Dafür, dass aber Kelmi nicht aufgab, war Sanne ihm unendlich dankbar.

Wie hätte sie selbst denn aufgeben können? Ihr Vater war erschossen worden, er hatte keine Handhabe mehr, sich gegen die, die seinen Tod obendrein sinnlos machten, zur Wehr zu setzen. Und ihre Mutter war mit ihm gestorben, selbst wenn sie tot in ihrem Körper verharren musste. Er hatte nur Sanne. Wenn sie aufgab, war seine Stimme endgültig verhallt.

,,Der das verraten hat – das war dieser Otti?“, hakte Kelmi sanft noch einmal nach.

Sanne nickte. ,,Er und sein Vater. Und seine Großmutter, die ich Omi Lischka genannt habe. Dass sie Nazis waren, wussten wir, aber ich habe Otti trotzdem gemocht. Ich kannte ihn doch mein ganzes Leben. Jetzt hasse ich mich dafür. Vielleicht war ich es, die etwas ausgeplapp­ert hat, irgendeine­n Hinweis, der Otti genügte.“

,,Du, Susu?“Er umfasste ihr Gesicht. ,,Aber hast denn du von den Zetteln, von denen nicht einmal deine Mutter etwas ahnte, gewusst?“

In seinen großen, behutsamen Händen schüttelte sie den Kopf.

,,Mein Vater hat niemandem ein Wort davon gesagt. Ich glaube, das ist es, was meine Mutter nicht verkraften kann. Er hatte ihr versproche­n, vor ihr kein Geheimnis mehr zu haben, und sie fühlt sich von zwei Seiten betrogen, von ihrem Mann und von ihrer Familie, in denen sie die Verräter sieht.“

,,Und dass die es nicht waren, steht fest?“

Sanne nickte. ,,Eugen hat jahrelang jede kleinste Spur überprüft. Felix Konya, der Bruder meiner Mutter, war gefallen, und kurz zuvor war ihr Vater gestorben. Die Konyas waren mit ganz anderem beschäftig­t, aber meine Mutter hat sich nun einmal darauf versteift. Vielleicht, weil sie selbst Otti vertraut hat und es sich nicht verzeihen kann? Dass man seiner Familie vertraut, kreidet einem ja niemand an, aber Otti rannte tagaus, tagein in der HJ-Uniform herum, und sein Vater war in der Partei. Ich verzeihe es mir auch nicht. Wie habe ich mit dem Menschen auf den Weihnachts­markt gehen können, der schuld ist, dass mein Vater starb?“

,,Scht.“Kelmi berührte ihre Lippen mit seinen. ,,Sei nicht so streng mit dir, mein armes Mädchen. Du wolltest jemanden zum Freund haben, was ist daran falsch? Wenn ich meine Freunde nicht hätte, ich wüsste nicht, wo ich wäre. Deinen Hass verdient der, der deine Freundscha­ft missbrauch­t hat. Nicht du. Und mit dieser Birgit Ahrendt ist es dir nach dem Krieg noch einmal genauso ergangen?“

Sanne nickte. ,,Meine Eltern und ich, wir hatten immer nur an ein Hinterher gedacht, in dem wir drei zusammen waren. Als ich sie beide nicht mehr hatte, bin ich mir vorgekomme­n wie der letzte Mensch auf der verwüstete­n Welt. Dabei ist das unfair. Eugen und Hille waren für mich da, sie haben für mich gesorgt wie für ihr eigenes Kind.

Aber als Birgit kam, hatte ich plötzlich jemanden, mit dem ich reden konnte.“

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