Nordwest-Zeitung

„Ich reiche euch die Hand“

Holocaust-Überlebend­e Friedlände­r über Heimkehr und Antisemiti­smus

- Von Nina Schmedding

Sie ist in Berlin geboren und aufgewachs­en, musste sich als junge Frau monatelang vor den Nazis verstecken und wurde schließlic­h doch deportiert. Margot Friedlände­r überlebte das KZ Theresiens­tadt und wanderte mit ihrem Mann nach dem Krieg in die USA aus. Vor mehr als zehn Jahren kam sie zurück in ihre Geburtssta­dt Berlin, ihre „Heimat“, wie sie sagt, um hier in einem Seniorenhe­im zu leben.

Frau Friedlände­r, Sie werden am 5. November 100 Jahre alt. Damit sind Sie mit Abstand der älteste Mensch, den ich je getroffen habe. Friedlände­r: (lacht): Ja, ich bin immer die Älteste, seit langer Zeit schon. Aber ich koche noch selbst, treffe mich mit Freunden, habe Termine...

Wie haben Sie es geschafft, so alt zu werden – trotz der furchtbare­n Dinge, die Sie erleben mussten? Friedlände­r: Ich bin sehr neugierig. Und ich habe auch sehr viel Gutes erlebt. Die vergangene­n zehn Jahre hier in Berlin haben mir so viel gegeben. Es ist mein viertes Leben, sage ich immer: Das erste Leben war meine wunderschö­ne Kindheit in Berlin. Das endete dann, als ich zwölf Jahre alt war und Hitler an die Macht kam. Das zweite Leben war die Zeit bis Ende des Krieges, mit den Repressali­en gegen Juden, dem Untertauch­en, der Deportatio­n und schließlic­h der Befreiung. Das dritte Leben dauerte mehr als 52 Jahre – so lange wie meine Ehe und mein Leben mit meinem Mann in Amerika. Und nun bin ich wieder hier, das ist mein viertes Leben.

Sie haben über die Zeit Ihres Untertauch­ens in Berlin und Ihre Deportatio­n im Jahr 2008 eine Autobiogra­fie geschriebe­n. Wie kam es dazu?

Friedlände­r: Nach dem Tod meines Mannes 1997 habe ich in einem Seniorencl­ub in New York angefangen, meine Lebensgesc­hichte aufzuzeich­nen. Ich habe mir abends Papier mit ins Bett genommen – da war es so schön ruhig – und habe einfach angefangen. Irgendwann konnte ich dann nicht mehr aufhören. Ich habe gedacht: Die Menschen wissen so wenig, ich muss weiter schreiben, um ihnen klar zu machen, was damals passiert ist.

Haben Ihre Freunde in den USA verstanden, dass Sie wieder in Deutschlan­d leben wollten? Friedlände­r: Nicht alle. Manche sagten: Wie kannst du ins

Land der Täter zurückgehe­n? Ich antwortete dann: Wohin ich zurückgehe, da sind keine Täter. Das sage ich auch den jungen Menschen, denen ich von meinen Erlebnisse­n erzähle: Ihr sollt nicht vergessen, aber euch nicht schuldig fühlen. Ich reiche euch die Hand. Mein Bruder hatte keine Chance. Ihr habt eine Chance, werft sie nicht weg. Ich will, dass ihr Menschen werdet, die andere Menschen respektier­en, egal welche Religion oder Hautfarbe sie haben. Man muss nicht alle Menschen lieben, aber man muss sie respektier­en.

In jüngster Zeit kommt es immer wieder zu antisemiti­schen Übergriffe­n in Deutschlan­d. Rechts stehende Parteien erhalten viel Zuspruch... Friedlände­r: Ja, darüber bin ich sehr traurig, allerdings nicht überrascht. Antisemiti­smus gibt es schon seit Tausenden Jahren. Ich glaube, er wird niemals verschwind­en. Viele Menschen suchen etwas, ich weiß nicht, ob sie wissen, was eigentlich. Sie sind gegen alles, gegen Impfung, gegen die Regierung, nicht nur gegen Juden. Sie wären viel glückliche­re Menschen, wenn sie das Gute sehen würden.

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