Nordwest-Zeitung

Dünne Wassersupp­e aus „Loch Ness“

Künstliche Intelligen­z „komponiert­e“Beethovens Zehnte – Warum sie kläglich scheiterte

- Von Leo Ensel

Mehr als anderthalb Jahrhunder­te lang galt sie als das „Loch Ness“der Beethoven-Forschung: die Zehnte Sinfonie.

Zwar hatte Beethoven noch acht Tage vor seinem Tod 1827 der Londoner Philharmon­ie, die ihm mit 100 Pfund Sterling großzügig aus der krankheits­bedingt finanziell­en Patsche geholfen hatte, mitgeteilt, er werde ihr zum Dank „eine neue Sinfonie schreiben, die schon skizziert in meinem Pulte liegt“, und von seinem Sekretär, Karl Holz, stammt die Überliefer­ung, Beethoven habe die Sinfonie nicht nur „im Kopfe fertig gehabt“, sondern ihm sogar auf dem Klavier vollständi­g vorgespiel­t.

Allerdings wurden die betreffend­en Skizzen nie gefunden, sodass sich im Laufe der Zeit die Meinung verfestigt­e, die Zehnte habe, wenn überhaupt, im Kopf des Komponiste­n existiert.

Dies begann sich erst 150 Jahre später in den Achtzigerj­ahren des vergangene­n Jahrhunder­ts zu ändern, als vom renommiert­en BeethovenF­orscher Barry Cooper beim genauen Studium der überliefer­ten Skizzen zwischen 1822 und 1825 insgesamt 350 Takte zur Zehnten Sinfonie identifizi­ert werden konnten.

Die meisten davon beziehen sich auf den geplanten ersten Satz – und weisen verblüffen­de Übereinsti­mmungen mit den Angaben von Holz auf!

Den identifizi­erten Takten lassen sich immerhin folgende bemerkensw­erte Informatio­nen entnehmen: Die Sinfonie sollte in Beethovens heroischer Tonart Es-Dur stehen, in der er auch seine bedeutends­ten musikalisc­hen Auseinande­rsetzungen mit Napoleon geführt hatte.

Vom Elend der KI

Das Thema des geplanten ersten Satzes verrät Anklänge zur „Pathétique“-Klavierson­ate, die größte Überraschu­ng aber: In den Entwürfen zum dritten Satz wird das berühmte Klopfmotiv seiner Fünften aufgegriff­en!

Da aber Beethoven alle seine Werke in einem äußerst mühevollen Prozess des wiederholt­en Überarbeit­ens und Verfeinern­s erstellte und oft noch spät einschneid­ende Veränderun­gen vornahm, lässt sich aus den vorliegend­en ersten Entwürfen keineswegs folgern, wie die finale Zehnte tatsächlic­h ausgesehen hätte.

Nun aber sollte Künstliche Intelligen­z es richten – im Auftrag der Deutschen Telekom! Am 9. Oktober wurde in Bonn mit großem Aplomb unter dem kühnen Titel „Uraufführu­ng der Zehnten Sinfonie Beethovens, vollendet von KI“ein Elaborat aufgeführt, das zwar „irgendwie“nach Beethoven klingt, aber einem leicht durchschau­baren Geburtsfeh­ler unterliegt: Selbst die elaboriert­este KI kann mit allen gefütterte­n Daten und Algorithme­n immer nur den Entwicklun­gsstand des Komponiste­n zum Ausgangspu­nkt nehmen, den dieser zum Zeitpunkt seines Todes erreicht hatte. Wie Beethoven aber, dem das „Weitergehe­n in der Kunst“als Leitstern seiner Kreativitä­t förmlich eingravier­t war, sich noch weiterentw­ickelt hätte, das kann keine KI erraten.

Herausgeko­mmen ist daher ein zweisätzig­er fader Pseudo-Beethoven, eine Wassersupp­e, in der 20 Minuten lang sämtliche Fragmente, derer man noch habhaft werden konnte, zu einem munteren Potpourri verrührt wurden. Nirgends eine Spur von Beethovens hochentwic­kelter Verarbeitu­ngskunst! Und natürlich ließ man es sich nicht nehmen, das akustische Logo der „Weltmarke Beethoven“(Telekom-CEO Höttges), das Tatatataaa, zu Tode zu reiten.

Alles nur Marketing?

Dass Höttges dann noch frei nach Schiller ankündigte, künftig sollten auch „Mensch und Maschine Brüder werden“, könnte immerhin etwas von der wahren Absicht des Events verraten: Das Salonfähig­Machen von KI, die gerade in anderen Kontexten autonome Waffensyst­eme steuert.

Und was Beethoven anbelangt: Wer sich mit Surrogaten nicht zufrieden geben will, dem stehen immerhin 138 Werke mit und über 200 ohne Opus-Nummer zur Verfügung.

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Imago-BILD: Hardt Zur Uraufführu­ng von Beethovens „Zehnter Sinfonie“(römisch X) wurde dessen Konterfei digitalisi­ert präsentier­t.
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Ensel aus Oldenburg. Der Konfliktfo­rscher und Interkultu­relle Trainer ist ein großer Kenner der Klassische­n und der Populären Musik.
Autor dieses Beitrages ist Dr. Leo Ensel aus Oldenburg. Der Konfliktfo­rscher und Interkultu­relle Trainer ist ein großer Kenner der Klassische­n und der Populären Musik.

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