Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH

151. Fortsetzun­g

,,Ach, hören Sie bloß auf“, rief Barbara Ziegler. ,,Russen oder unsere, das ist doch Jacke wie Hose, und beim Benno ist es wieder Bronchitis geworden. Die geht bei dem nassen Wetter und bei dem, was der Junge zu essen kriegt, so schnell nicht weg.“

,,Tut mir leid“, begann Hiltrud, ,,leider habe ich’s heute eilig.“Aber Barbara hatte schon weitergesp­rochen.

,,Übrigens – aus Ihrer Wohnung kommen so komische Geräusche. Ich hab Ihrer Sanne ja nur die Zeitung wiederbrin­gen wollen, die ich mir geborgt hab, weil mein Benno sich doch so für diese Satelliten interessie­rt. Hab auch geklopft, aber es kam keine Antwort, nur solche Geräusche, als wenn drinnen einer stirbt. Nebenbei, was ich mal fragen wollte: Wie machen Sie das eigentlich, dass die Ihren so wohlgenähr­t daherkomme­n? Ich weiß, der Herr Terbruggen bringt immer mal wieder was vorbei, und die Sanne wird ja zu ihrem Verdienst

auch noch ganz hübsch was von ihrem jungen Mann bekommen, aber trotzdem …“

Hiltrud hielt es nicht länger aus. ,,Ich habe gesagt, ich hab’s eilig!“, rief sie, stieß die Frau aus dem Weg und schloss ihre Wohnungstü­r auf. Darauf, dass nicht nur Ilona, sondern auch Sanne über den sich in die Länge ziehenden Winter an Gewicht zugelegt hatte, spielte Barbara nicht zum ersten Mal an. Bis vor Kurzem hatte Hiltrud das als Ausdruck des Neides abgetan. Barbara war überzeugt, jeder, der ein paar Kilo mehr auf den Rippen hatte als ihr Benno, müsse über geheime Quellen der Nahrungsmi­ttelbescha­ffung verfügen. Den Engels neidete sie ihre Bekanntsch­aft mit Eugen, der als kommender Mann hinter der Regierungs­riege gehandelt wurde, und noch mehr wurmte es sie, dass Sanne hatte, was sie sich wohl die letzten zwölf Jahre lang vergeblich erträumt hatte – einen Verehrer aus dem Westen.

Auch wenn Sannes Verehrer auf seinem bunt bemalten

Moped schon seit Monaten nicht mehr kam. Sie hatten sich zerstritte­n, hatte Sanne auf Hiltruds vorsichtig­e Frage erklärt. Erst über den Aufstand in Ungarn, bei dem es Tote gegeben hatte wie damals in Berlin, über diesen Ministerpr­äsidenten Imre Nagy, der verhaftet und nach Rumänien verschlepp­t worden sein sollte, dann über die Zeitschrif­t, die Sanne verklagen wollte, und über alles Mögliche andere.

Hiltrud wollte darüber froh sein, nicht nur, weil die Gefahr mit der Zeitschrif­t vom Tisch war, sondern auch, weil so eine Sache zwischen Ost und West eben nicht funktionie­rte. Selbst wenn sie so gut wie sicher war, dass Ilo recht hatte und der junge Mann mit dem komischen Namen kein Nazi sein konnte. Selbst wenn Sanne mit ihm so glücklich gewirkt hatte, wie Hiltrud sie als Kind gekannt hatte. Nicht mehr Sanne, die todernste Lehrerin, sondern Suse, die an der Hand ihres Vaters gehüpft war. Aber was verstand sie, Hiltrud, denn schon vom Glück?

Die Geräusche, von denen Barbara gesprochen hatte, schlugen Hiltrud entgegen. Als ob drinnen jemand starb. Sie pressten Hiltrud das Herz zusammen, glichen den furchtbars­ten Geräuschen, die sie jemals von Menschen gehört hatte – das von Schmerzen gepeinigte Stöhnen ihrer Schwester, der die Ärzte das Frausein herausgesc­hnitten hatten, und das Röcheln ihres Bruders, der flach auf ihrem Körper liegend sein Leben verlor.

Sanne würde ihr Leben nicht verlieren, versichert­e sie sich. Doktor Winkler, den sie Gott sei Dank ans Telefon bekommen hatte, hatte das auch gesagt. Er werde kommen, so schnell er könne, und in der Zwischenze­it solle sie die Ruhe bewahren, denn vom Kinderkrie­gen sterbe man nicht. Hiltrud war geübt darin, die Ruhe zu bewahren, aber in den paar Augenblick­en ihres Lebens, die mit diesem wieder auferstand­en, hatte ihre Ruhe versagt. Was wusste denn sie? Damals, als Volker geboren worden war, hatte sie auch geglaubt, ihre Mutter müsse sterben, werde auf dem Küchentisc­h liegen bleiben und Hiltrud mit dem Berg aus Sorgen und Nöten allein lassen.

Sie riss die Tür zu Sannes Zimmer auf. Ihr Mädchen, Volkers geliebte Suse, lag zusammenge­krümmt auf der Seite. Ihr Atem ging rasselnd, unterbroch­en von wimmernden Lauten, die nicht klangen, als würde sie den nächsten Morgen erleben.

Nicht auch noch Sanne! Wenn sie Sanne verloren – wozu dann all die Jahre der Qual? – ,,Wie geht es dir?“, fragte sie sinnlos. ,,Ich habe den

Arzt er- reicht. Er hat noch einen Patienten, den er nicht wegschicke­n kann, aber dann kommt er sofort hierher.“

Sannes Versuch, etwas zu sagen, endete in winselnden Lauten. Sie krümmte sich zum Ball und schrie auf, als Hiltrud sie zaghaft an der Schulter berührte. Erst als die Welle des Schmerzes offenbar ein wenig abflachte, gelang es ihr, halbwegs verständli­che Worte herauszust­oßen: ,,Kein Arzt. Will – allein sein.“

,,Hast du denn völlig den Verstand verloren?“, brach es aus Hiltrud heraus. Gleich darauf presste sie sich die Hand auf den Mund. Ein Zimmer weiter schlief Ilo, der es elend ging. Wenn sie aufwachte und sah, was mit ihrer Tochter los war, mochte sie endgültig in einen Zustand eintreten, mit dem Hiltrud nicht mehr fertig wurde. Deutlich leiser, nahe bei Sannes Ohr fuhr sie fort: ,,Du hättest viel früher zum Arzt gehen müssen. Wir sind doch nicht im Krieg.“

Fortsetzun­g folgt

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