Nordwest-Zeitung

Macrons eigener Atomkraft-Kurs

Weshalb den Franzosen die deutsche Haltung zur Kernenergi­e fremd ist

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Die Stromrechn­ung spielt für die Menschen in Frankreich eine besondere Rolle. Nicht, dass sie sich mehr ärgern als wir, wenn die Energiepre­ise steigen. Nein, die Rechnung vom Staatskonz­ern EDF, bei dem die meisten Franzosen Kunden sind, hat ganz praktische Bedeutung im Alltag. Da der Staat kein Meldewesen kennt, gilt die Stromrechn­ung hier ganz offiziell als Nachweis des Wohnsitzes. Man hat sie so selbstvers­tändlich dabei wie Menschen in Deutschlan­d ihren Personalau­sweis.

Das führt nun nicht dazu, dass die Franzosen ihre EDF besonders lieben. Im Gegenteil, über die Strompreis­e wird gerade heftig diskutiert. Und dabei auch über die verrückten Deutschen, die trotz der Klimakrise ihre Atomkraftw­erke abschalten und stattdesse­n die Kohlekraft­werke noch jahrelang weiterlauf­en lassen wollen. Ausgerechn­et der billigsten und saubersten Energieque­lle den Garaus zu machen, das versteht hier kaum einer, da hilft auch das Stichwort „Fukushima“nicht.

Unbefangen

Unsere linksrhein­ischen Nachbarn haben eh ein unbefangen­eres Verhältnis zur Atomenergi­e. Sie verstecken sie auch nicht in einsamen Gegenden.

Eines der bekanntest­en Kernkraftw­erke, die Anlage Tricastin am Ufer der Rhone, steht direkt an der meistbefah­renen

französisc­hen Autobahn, der A7. Hunderttau­senden deutschen Urlaubern, die jedes Jahr auf dem Weg Richtung Spanien daran vorbeifahr­en, mag angesichts der 40 Jahre alten Betonklötz­e kurz etwas mulmig werden. Die Einheimisc­hen beachten die verwittert­en Meiler kaum.

Über Atomkraft diskutiert man hier nicht. Eher darüber,

dass es davon zu wenig gibt. Und dass der Strom in Frankreich viel billiger sein könnte, gäbe es da nicht den gemeinsame­n europäisch­en Strommarkt, in den die EDF ihren Atomstrom teuer verkauft, statt ihn günstig an Haushalte und Unternehme­n im eigenen Land zu verteilen. Die germanisch­en Nachbarn mit ihrem teuren Ökostrom und die EU mit dem Zwang, ihn vorrangig einzuspeis­en, verderben in Frankreich die Preise, und mit ihrem Kohlestrom verpesten die Deutschen auch noch die

Luft – so sehen es viele hier.

Die Ankündigun­g von Präsident Macron vom 12. Oktober, dass das Land bis 2030 eine Milliarde Euro in die Entwicklun­g und den Bau neuer nuklearer Kleinkraft­werke, sogenannte­r „Small Modular Reactors“, investiere­n will, hat deshalb in Deutschlan­d mehr Überraschu­ng hervorgeru­fen als im Hexagon selbst. Hier rieb sich die Opposition zwar an den großspurig­en Ankündigun­gen des Präsidente­n im Jahr vor der Wahl, aber wenig an der Botschaft, dass das Land weiter auf Atom setzen und sogar eine neue Generation von sichereren und weniger Atommüll produziere­nden Kraftwerke­n bauen wolle.

Die Mehrheit

Zwar protestier­te die Grünen-Partei EELV pflichtsch­uldigst und forderte schwammig einen „vernünftig­en und gesteuerte­n Ausstieg“aus dem „nuklearen Dogma“Frankreich­s. Aber das war’s auch schon mit Widerstand. In der Bevölkerun­g spricht sich einer aktuellen Umfrage zufolge eine Mehrheit für mehr Atomenergi­e aus.

Vor allem aber verlangen die Menschen, dass die Regierung etwas gegen die steigenden Energiepre­ise tut. Jüngst sah man auf Kreisverke­hren hier im Süden des Landes wieder die ersten Gelbwesten protestier­en. Diesmal gegen steigende Spritpreis­e, hohe Heizkosten und teuren Strom. Der Präsident hat die Botschaft verstanden. Geht es ihm offiziell um die Dekarbonis­ierung der Industrie, um Modernität und Zukunft, so weiß er in Wirklichke­it, dass die Bürger im Jahr vor der Wahl vor allem eines interessie­rt: wie sie mit ihrem Geld auskommen.

 ?? Zeichnung: Jürgen Tomicek ?? Auf geht’s! Banger Blick auf kommende Großverans­taltungen
Zeichnung: Jürgen Tomicek Auf geht’s! Banger Blick auf kommende Großverans­taltungen
 ?? Dpa-BILD: Horcajuelo ?? Das französisc­he Atomkraftw­erk Tricastin
Dpa-BILD: Horcajuelo Das französisc­he Atomkraftw­erk Tricastin
 ?? ?? Der Autor Helmut Burlager (64) war Chefredakt­eur in Jever und Wittmund. Er lebt in Friesland und im Languedoc (Frankreich). @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de
Der Autor Helmut Burlager (64) war Chefredakt­eur in Jever und Wittmund. Er lebt in Friesland und im Languedoc (Frankreich). @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de

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