Nordwest-Zeitung

„Nicht nur Recht oder Unrecht“

Michael Fürst über Novemberpo­grome 1938 und Antisemiti­smus heute

- Von Stefan Idel, Büro Hannover

Herr Fürst, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschlan­d und in Nachbarlän­dern die Synagogen. Es war das Signal zu einem unfassbare­n Völkermord. Fällt angesichts des Ungeheuerl­ichen dieses Ereignisse­s das Gedenken zu klein aus?

Fürst: Im Grunde müssten wir jeden Tag des Völkermord­es gedenken. Der 9. November ist nur ein Tag. Judenverfo­lgung gab es nicht nur zwischen 1933 und 1945, sondern jahrhunder­telang. Wenn wir 1700 Jahre Judentum in Deutschlan­d feiern, dann feiern wir eigentlich 1700 Jahre Überleben in einem Land, in dem es immer wieder zu Pogromen kam. Aber Deutschlan­d und die deutsche Gesellscha­ft haben sich seit Jahrzehnte­n zur „deutschen Schuld“überzeugen­d bekannt.

Wie vielfältig ist das Gedenken in diesem Jahr?

Fürst: Wie immer sehr unterschie­dlich. In der Landeshaup­tstadt Hannover gibt es das Gedenken im Niedersäch­sischen Landtag, zu dem mich in diesem Jahr übrigens mein 18-jähriger Enkel begleitet, sowie die Gedenkstun­de an der ehemaligen Neuen Synagoge in der Straße „Rote Reihe“. Überall in Deutschlan­d werden digital konstruier­te Synagogen an ihren historisch­en Standorten auf die dortigen Gebäude oder auf Leinwände projiziert.

Es mehren sich antisemiti­sche Vorfälle in Deutschlan­d. Wie erklären Sie sich das? Was ist zu tun?

Fürst: Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Leider gibt es Menschen, die antisemiti­sch, fremdenfei­ndlich oder rassistisc­h denken. Überwiegen­d sind die Täter Menschen, die sich ausgegrenz­t fühlen oder meinen, ihnen werde Unrecht getan. Sie suchen einen Schuldigen – und das ist oft „der Jude“. In Niedersach­sen haben wir glückliche­rweise nicht die antisemiti­schen Probleme, wie sie in anderen Bundesländ­ern auftauchen.

Woran liegt das?

Fürst: Es liegt unter anderem daran, dass wir hier in Niedersach­sen eine sehr offene jüdische Gesellscha­ft sind, die richtig gute Kontakte zu den muslimisch­en Verbänden und zur palästinen­sischen Gemeinde pflegt. Es gibt viele gemeinsame Veranstalt­ungen. Und als Anwalt sage ich: Es gibt nicht nur Recht oder Unrecht. Wir dürfen dem vermeintli­chen Gegner – und dabei spreche ich auch das israelisch-palästinen­sische Verhältnis an – nicht seine persönlich­en Gefühle absprechen.

Werden Sie regelmäßig wegen Ihres Glaubens angefeinde­t? Fürst: Eher selten. Ich bekomme zwar regelmäßig zum Teil hasserfüll­te Briefe. Aber gleichzeit­ig habe ich das Gefühl, dass ich in Niedersach­sen gut von der Gesellscha­ft geschützt bin.

Es gibt eine Forschungs­kooperatio­n zwischen Niedersach­sen und Israel, jedoch wenig Jugendaust­ausch. Sollte hier mehr getan werden? Fürst: Die Forschungs­kooperatio­nen mit den israelisch­en Universitä­ten sind hervorrage­nd, aber der Jugendaust­ausch liegt tatsächlic­h etwas im Argen. Das hat auch etwas mit Kosten und der Schnellleb­igkeit unserer Zeit zu tun. Mit fehlt eine Städtepart­nerschaft der Landeshaup­tstadt Hannover mit einer großen israelisch­en Stadt. Dabei darf es nicht nur um ein Schild gehen. Die Städtepart­nerschaft muss mit Leben gefüllt werden.

Die erste Auslandsre­ise eines neu gewählten Bundeskanz­lers geht meist nach Paris. Warum nicht nach Jerusalem? Fürst: Das hat etwas mit dem Bekenntnis zu Europa zu tun. Die Beziehung zwischen Deutschlan­d und Israel ist sehr freundscha­ftlich und in den letzten Jahrzehnte­n stets gewachsen. Daher sollte man sie nicht mit Formalien wie „die erste Reise“verknüpfen.

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