Nordwest-Zeitung

Fest eingemauer­t im Luftreich

- Michael Sommer über Katastroph­en und den deutschen Stillstand

Franzosen und Russen gehört das Land, Das Meer gehört den Briten, Wir aber besitzen im Luftreich des Traums

Die Herrschaft unbestritt­en.

So dichtete 1844 Heinrich Heine, nachdem er, aus dem Pariser Exil kommend, im Jahr zuvor ein paar Wochen durch sein Heimatland gereist war. Die Verse aus dem „Wintermärc­hen“waren damals hellsichti­g und sie haben nach fast 180 Jahren nichts von ihrer Aktualität verloren.

Ähnlich sieht es der in Stanford lehrende britische Historiker Niall Ferguson, der in seinem neuen Buch „Doom. The Politics of Catastroph­e“(„Doom. Die großen Katastroph­en der Vergangenh­eit und einige Lehren für die Zukunft“) warnt, die Menschheit sei insgesamt schlecht für kommende Katastroph­en gerüstet.

Aus welcher Richtung der nächste Einschlag erfolge, sei nicht vorherzuse­hen. Sicher sei nur, dass er komme und dass die hochgradig bürokratis­ierten Systeme moderner Staaten dann wieder, wie in der Corona-Pandemie, zu langsam und zu ineffizien­t reagieren würden.

Dass China und Russland es nicht besser machen als die Demokratie­n des Westens, ist nur ein schwacher Trost. Künftige Bedrohungs­szenarien, ob sie von echten oder von Computer-Viren ausgehen, von Umweltzers­törung oder Klimawande­l, von Kriegen oder Desinforma­tion durch Fake News, sind global. Dass sich Regierunge­n überall schwer damit tun, ihre Gesellscha­ften für den Fall der Fälle zu rüsten, ist kein Anlass zur Sorglosigk­eit, sondern ein alarmieren­der Befund.

Ferguson hat sich neulich im „Handelsbla­tt“gewundert, in Deutschlan­d scheine die Zeit stillzuste­hen. In 16 Jahren unter Angela Merkel habe sich, abzulesen am Wahlkampf 2021, kaum etwas verändert. Dabei sei die Welt, in und mit der Deutschlan­d heute zurechtkom­men müsse, eine grundlegen­d andere als 2005. Deutschlan­d sei der „englische Patient“.

Wenn dieser Patient an etwas leidet, dann vermutlich an einer bipolaren Störung. Früher hätte man gesagt, er ist manisch-depressiv. Fest eingemauer­t in ihrem Luftreich des Traums, schaffen es die Deutschen, sich ihren Glauben an die eigene Unverwundb­arkeit zu bewahren, während sie zugleich kaum einen Zweifel daran zulassen, dass die Apokalypse unmittelba­r bevorsteht.

Wie sonst ist es zu erklären, dass die Politik im Wahlkampf quer durch alle Parteien mantraarti­g Bekenntnis­se zum Zwei-Grad-Klimaziel, zum Ausstieg aus den fossilen Brennstoff­en, zur Rentensich­erheit, zu Respekt und sozialer Gerechtigk­eit abgelegt hat ? Während sie mit Plazebos nur so um sich geworfen hat, ist sie den Wählern die Antworten auf drängende Fragen nicht nur schuldig geblieben, sie hat es lieber ganz vermieden, solche Fragen zu stellen.

Beispiel Energiesic­herheit: Wie wollen wir klimaneutr­al genug Strom produziere­n, um nach Abschaltun­g der letzten Atomkraftw­erke den durch Elektromob­ilität stark ansteigend­en Strombedar­f zu decken? Wie fügt sich Nord Stream in die Pläne für eine sichere und klimaneutr­ale Energiever­sorgung?

Beispiel Rente: Wer schenkt den Deutschen zuerst reinen Wein ein, dass ein umlagenfin­anziertes System auf Dauer keine auskömmlic­he Altersvers­orgung garantiere­n wird? Schon gar nicht dann, wenn Regierungs­parteien vor allem die Interessen ihrer überaltert­en Klientel im Blick haben und beständig das Füllhorn teurer Wohltaten über ihnen ausschütte­n.

Beispiel Sicherheit: Wer fragt, was geschieht, wenn die USA nicht mehr für die Unversehrt­heit Europas garantiere­n mögen? Wie will Europa künftig verhindern, dass sein strategisc­hes Glacis in Osteuropa, im Nahen Osten und in Nordafrika in Chaos abgleitet oder dort verharrt? Wie mit Diktatoren vom Schlage eines Lukaschenk­o oder Erdogan umgehen? Wie eine Neuauflage von 2015 verhindern?

Die Liste ließe sich fortsetzen. Freilich: Im Luftreich des Traums lebt es sich so lange kommod, bis der eisige Wind der Wirklichke­it zur Tür hineinzieh­t.

Niall Ferguson: Doom. Die großen Katastroph­en der Vergangenh­eit und einige Lehren für die Zukunft. München, DVA, 2021, 592 Seiten, 28 Euro.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany