Fest eingemauert im Luftreich
Franzosen und Russen gehört das Land, Das Meer gehört den Briten, Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
Die Herrschaft unbestritten.
So dichtete 1844 Heinrich Heine, nachdem er, aus dem Pariser Exil kommend, im Jahr zuvor ein paar Wochen durch sein Heimatland gereist war. Die Verse aus dem „Wintermärchen“waren damals hellsichtig und sie haben nach fast 180 Jahren nichts von ihrer Aktualität verloren.
Ähnlich sieht es der in Stanford lehrende britische Historiker Niall Ferguson, der in seinem neuen Buch „Doom. The Politics of Catastrophe“(„Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft“) warnt, die Menschheit sei insgesamt schlecht für kommende Katastrophen gerüstet.
Aus welcher Richtung der nächste Einschlag erfolge, sei nicht vorherzusehen. Sicher sei nur, dass er komme und dass die hochgradig bürokratisierten Systeme moderner Staaten dann wieder, wie in der Corona-Pandemie, zu langsam und zu ineffizient reagieren würden.
Dass China und Russland es nicht besser machen als die Demokratien des Westens, ist nur ein schwacher Trost. Künftige Bedrohungsszenarien, ob sie von echten oder von Computer-Viren ausgehen, von Umweltzerstörung oder Klimawandel, von Kriegen oder Desinformation durch Fake News, sind global. Dass sich Regierungen überall schwer damit tun, ihre Gesellschaften für den Fall der Fälle zu rüsten, ist kein Anlass zur Sorglosigkeit, sondern ein alarmierender Befund.
Ferguson hat sich neulich im „Handelsblatt“gewundert, in Deutschland scheine die Zeit stillzustehen. In 16 Jahren unter Angela Merkel habe sich, abzulesen am Wahlkampf 2021, kaum etwas verändert. Dabei sei die Welt, in und mit der Deutschland heute zurechtkommen müsse, eine grundlegend andere als 2005. Deutschland sei der „englische Patient“.
Wenn dieser Patient an etwas leidet, dann vermutlich an einer bipolaren Störung. Früher hätte man gesagt, er ist manisch-depressiv. Fest eingemauert in ihrem Luftreich des Traums, schaffen es die Deutschen, sich ihren Glauben an die eigene Unverwundbarkeit zu bewahren, während sie zugleich kaum einen Zweifel daran zulassen, dass die Apokalypse unmittelbar bevorsteht.
Wie sonst ist es zu erklären, dass die Politik im Wahlkampf quer durch alle Parteien mantraartig Bekenntnisse zum Zwei-Grad-Klimaziel, zum Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, zur Rentensicherheit, zu Respekt und sozialer Gerechtigkeit abgelegt hat ? Während sie mit Plazebos nur so um sich geworfen hat, ist sie den Wählern die Antworten auf drängende Fragen nicht nur schuldig geblieben, sie hat es lieber ganz vermieden, solche Fragen zu stellen.
Beispiel Energiesicherheit: Wie wollen wir klimaneutral genug Strom produzieren, um nach Abschaltung der letzten Atomkraftwerke den durch Elektromobilität stark ansteigenden Strombedarf zu decken? Wie fügt sich Nord Stream in die Pläne für eine sichere und klimaneutrale Energieversorgung?
Beispiel Rente: Wer schenkt den Deutschen zuerst reinen Wein ein, dass ein umlagenfinanziertes System auf Dauer keine auskömmliche Altersversorgung garantieren wird? Schon gar nicht dann, wenn Regierungsparteien vor allem die Interessen ihrer überalterten Klientel im Blick haben und beständig das Füllhorn teurer Wohltaten über ihnen ausschütten.
Beispiel Sicherheit: Wer fragt, was geschieht, wenn die USA nicht mehr für die Unversehrtheit Europas garantieren mögen? Wie will Europa künftig verhindern, dass sein strategisches Glacis in Osteuropa, im Nahen Osten und in Nordafrika in Chaos abgleitet oder dort verharrt? Wie mit Diktatoren vom Schlage eines Lukaschenko oder Erdogan umgehen? Wie eine Neuauflage von 2015 verhindern?
Die Liste ließe sich fortsetzen. Freilich: Im Luftreich des Traums lebt es sich so lange kommod, bis der eisige Wind der Wirklichkeit zur Tür hineinzieht.
Niall Ferguson: Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft. München, DVA, 2021, 592 Seiten, 28 Euro.