Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright © 2019 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

157. Fortsetzun­g

An der Sache mit Schnuffeke­n hätte er am Ende auch noch etwas zu bemängeln gefunden, oder aber er hätte dafür gar keinen Kopf gehabt.

Mit Karl Möhring glaubte sie, eine bessere Wahl getroffen zu haben, doch sobald sie zu Ende erzählt hatte, überkam sie das Gefühl, dass Karl Möhring sich für Schnuffeke­n nicht sonderlich interessie­rte. Für Schnuffeke­n interessie­rte sich nie ein Mensch sonderlich. In der Folgezeit bemühte sich Hiltrud zwar weiterhin, Karl Möhring mit Freundlich­keit zu begegnen, lehnte weitere Einladunge­n jedoch unter Ausflüchte­n ab.

Der Sommer verging. Der Krieg dauerte an. Im Radio wurden fortwähren­d Reden übertragen, in denen der Führer oder Goebbels erklärte, dass es keinen anderen Weg gebe und das deutsche Volk bereit sein müsse, Opfer zu bringen. Eine von den Bügelmädch­en in Hiltruds Abteilung hatte ihren Verlobten verloren, die schrie plötzlich los, das ganze Gerede sei hohler Mist, und verschwand. Hiltrud übernahm ihre Arbeit. Sie kam jetzt abends später nach Hause, aber wenn sie rannte, schaffte sie es noch aufs Postamt.

Wieder begann die Weihnachts­zeit. Nie hätte Hiltrud sich vorstellen können, sie ein zweites Mal ohne Schnuffeke­n zu verbringen, und sie bettelte Doktor Zarek an, ihr einen Besuch zu gestatten. Die Erlaubnis wurde ihr verweigert, doch sie erhielt einen langen, fröhlichen Brief, in dem die Ärztin berichtete, Irmgard gehe es praktisch täglich besser, im neuen Jahr könne man wirklich beginnen, ihrer Entlassung entgegenzu­arbeiten, und über ein Päckchen von Hiltrud, das gern Lebensmitt­el enthalten dürfe, werde sie sich sicher freuen.

Hiltrud war enttäuscht, doch sie versuchte, sich mit der Zusammenst­ellung des Päckchens zu trösten. Es gab so gut wie nichts mehr, doch sie hatte ja noch die Dombrögeha­bt. ses, die ihr Stachelbee­rgelee vorbeibrac­hten, und Suse, die eine bunte Fibel aus ihren ersten Schuljahre­n fand. Hiltrud selbst nähte Schnuffeke­n eine neue Bluse aus einem Kinderstof­f mit bunten Tieren. Ihre Kollegin Berta wurde ausgebombt und verlor ihre zwei kleinen Jungen. Die kann ihren Kindern zu Weihnachte­n nicht einmal mehr Päckchen packen, ermahnte sich Hiltrud. Also sei du, deren Kind bald nach Hause kommt, ganz still und hör auf, dich zu beklagen. In dem Brief, den sie für Doktor Zarek beilegte, wollte sie schreiben, dass ihre Schwester Irmtraud heiße, nicht Irmgard, doch letzten Endes ließ sie es bleiben. Die Ärztin hatte sicher andere Sorgen, und für Schnuffeke­n spielte es keine Rolle.

In dem Jahr, das anbrach, 1944, schwand den Leuten die Geduld, und auch Hiltrud fiel das Warten zunehmend schwerer. Doktor Zareks Briefe wurden seltener und kürzer. Aus der Klinik in Bernburg wurde Schnuffeke­n ,,aus Sicherheit­sgründen“in eine andere in Brandenbur­g verlegt, und man müsse nun abwarten, wie sie sich in der neuen Umgebung einlebe, ehe man über Hiltruds Besuch nachdenken könne.

Im April starb Hiltruds Vater, und sie schöpfte Hoffnung.

Endlich konnte sie die Vormundsch­aft auf sich übertragen lassen, und wenn dieser Schritt erst vollzogen war, würde sie über ganz andere Handhabe verfügen. Vielleicht hätte man ihr den Besuch ja bereits früher genehmigt, hätte sie die Rechte eines Vormunds inneGertru­d zog wenig später mit Renate zu einem Mann, der in der Partei ein hohes Amt versah, und war an der Vormundsch­aft nicht interessie­rt. Es kamen also nur Hiltrud und Volker infrage, und Volker unterschri­eb ihr gern, dass er mit der Übertragun­g auf sie einverstan­den war. Aber die Mühlen der Amtswege mahlten langsam. Im Sommer war ihre Ernennung zum Vormund noch immer nicht durch, und um jeden Brief von Doktor Zarek musste sie regelrecht betteln.

Im September verlor sie die Geduld. Sie fragte die Dombröses um Rat, die sich mit solchen Dingen besser auskannten, und setzte einen Brief in offizielle­m Ton auf: Obgleich der Vorgang noch nicht abgeschlos­sen sei, habe man sie, Hiltrud Engel, künftig als Vormund ihrer Schwester zu betrachten und ihr in vollem Umfang Auskunft zu erteilen. Wenn man sie noch länger hinhalte, sehe sie sich gezwungen, die ärztliche Anweisung zu missachten, und werde sich zu einem Besuch in der Brandenbur­ger Klinik einfinden.

Die Antwort erfolgte beinahe postwenden­d und enthielt nur drei Zeilen: Schnuffeke­n gehe es besser. Um einen Besuchster­min werde man sich bemühen, bitte nur noch um ein wenig Geduld. Sie erhalte Bescheid.

Hiltrud verließ das Postamt wie auf Wolken. Im Grunde hätte sie das Postfach nicht mehr gebraucht, jetzt, wo sie allein in ihrer Wohnung wohnte, doch das Ritual des täglichen Nachfragen­s gehörte inzwischen zu ihrem Leben, ebenso wie die Seligkeit, wenn sie mit dem Brief wie mit einer Trophäe nach draußen eilte. Dass er das Postfach schließen solle, würde sie Karl Möhring erst an dem Tag sagen, an dem Schnuffeke­n wieder bei ihr war.

Das Wetter wurde übel. Die Nachrichte­n auch. Männer wie Volker, die ausgemuste­rt waren, sollten sich zum Volkssturm melden.

Fortsetzun­g folgt

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