WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
157. Fortsetzung
An der Sache mit Schnuffeken hätte er am Ende auch noch etwas zu bemängeln gefunden, oder aber er hätte dafür gar keinen Kopf gehabt.
Mit Karl Möhring glaubte sie, eine bessere Wahl getroffen zu haben, doch sobald sie zu Ende erzählt hatte, überkam sie das Gefühl, dass Karl Möhring sich für Schnuffeken nicht sonderlich interessierte. Für Schnuffeken interessierte sich nie ein Mensch sonderlich. In der Folgezeit bemühte sich Hiltrud zwar weiterhin, Karl Möhring mit Freundlichkeit zu begegnen, lehnte weitere Einladungen jedoch unter Ausflüchten ab.
Der Sommer verging. Der Krieg dauerte an. Im Radio wurden fortwährend Reden übertragen, in denen der Führer oder Goebbels erklärte, dass es keinen anderen Weg gebe und das deutsche Volk bereit sein müsse, Opfer zu bringen. Eine von den Bügelmädchen in Hiltruds Abteilung hatte ihren Verlobten verloren, die schrie plötzlich los, das ganze Gerede sei hohler Mist, und verschwand. Hiltrud übernahm ihre Arbeit. Sie kam jetzt abends später nach Hause, aber wenn sie rannte, schaffte sie es noch aufs Postamt.
Wieder begann die Weihnachtszeit. Nie hätte Hiltrud sich vorstellen können, sie ein zweites Mal ohne Schnuffeken zu verbringen, und sie bettelte Doktor Zarek an, ihr einen Besuch zu gestatten. Die Erlaubnis wurde ihr verweigert, doch sie erhielt einen langen, fröhlichen Brief, in dem die Ärztin berichtete, Irmgard gehe es praktisch täglich besser, im neuen Jahr könne man wirklich beginnen, ihrer Entlassung entgegenzuarbeiten, und über ein Päckchen von Hiltrud, das gern Lebensmittel enthalten dürfe, werde sie sich sicher freuen.
Hiltrud war enttäuscht, doch sie versuchte, sich mit der Zusammenstellung des Päckchens zu trösten. Es gab so gut wie nichts mehr, doch sie hatte ja noch die Dombrögehabt. ses, die ihr Stachelbeergelee vorbeibrachten, und Suse, die eine bunte Fibel aus ihren ersten Schuljahren fand. Hiltrud selbst nähte Schnuffeken eine neue Bluse aus einem Kinderstoff mit bunten Tieren. Ihre Kollegin Berta wurde ausgebombt und verlor ihre zwei kleinen Jungen. Die kann ihren Kindern zu Weihnachten nicht einmal mehr Päckchen packen, ermahnte sich Hiltrud. Also sei du, deren Kind bald nach Hause kommt, ganz still und hör auf, dich zu beklagen. In dem Brief, den sie für Doktor Zarek beilegte, wollte sie schreiben, dass ihre Schwester Irmtraud heiße, nicht Irmgard, doch letzten Endes ließ sie es bleiben. Die Ärztin hatte sicher andere Sorgen, und für Schnuffeken spielte es keine Rolle.
In dem Jahr, das anbrach, 1944, schwand den Leuten die Geduld, und auch Hiltrud fiel das Warten zunehmend schwerer. Doktor Zareks Briefe wurden seltener und kürzer. Aus der Klinik in Bernburg wurde Schnuffeken ,,aus Sicherheitsgründen“in eine andere in Brandenburg verlegt, und man müsse nun abwarten, wie sie sich in der neuen Umgebung einlebe, ehe man über Hiltruds Besuch nachdenken könne.
Im April starb Hiltruds Vater, und sie schöpfte Hoffnung.
Endlich konnte sie die Vormundschaft auf sich übertragen lassen, und wenn dieser Schritt erst vollzogen war, würde sie über ganz andere Handhabe verfügen. Vielleicht hätte man ihr den Besuch ja bereits früher genehmigt, hätte sie die Rechte eines Vormunds inneGertrud zog wenig später mit Renate zu einem Mann, der in der Partei ein hohes Amt versah, und war an der Vormundschaft nicht interessiert. Es kamen also nur Hiltrud und Volker infrage, und Volker unterschrieb ihr gern, dass er mit der Übertragung auf sie einverstanden war. Aber die Mühlen der Amtswege mahlten langsam. Im Sommer war ihre Ernennung zum Vormund noch immer nicht durch, und um jeden Brief von Doktor Zarek musste sie regelrecht betteln.
Im September verlor sie die Geduld. Sie fragte die Dombröses um Rat, die sich mit solchen Dingen besser auskannten, und setzte einen Brief in offiziellem Ton auf: Obgleich der Vorgang noch nicht abgeschlossen sei, habe man sie, Hiltrud Engel, künftig als Vormund ihrer Schwester zu betrachten und ihr in vollem Umfang Auskunft zu erteilen. Wenn man sie noch länger hinhalte, sehe sie sich gezwungen, die ärztliche Anweisung zu missachten, und werde sich zu einem Besuch in der Brandenburger Klinik einfinden.
Die Antwort erfolgte beinahe postwendend und enthielt nur drei Zeilen: Schnuffeken gehe es besser. Um einen Besuchstermin werde man sich bemühen, bitte nur noch um ein wenig Geduld. Sie erhalte Bescheid.
Hiltrud verließ das Postamt wie auf Wolken. Im Grunde hätte sie das Postfach nicht mehr gebraucht, jetzt, wo sie allein in ihrer Wohnung wohnte, doch das Ritual des täglichen Nachfragens gehörte inzwischen zu ihrem Leben, ebenso wie die Seligkeit, wenn sie mit dem Brief wie mit einer Trophäe nach draußen eilte. Dass er das Postfach schließen solle, würde sie Karl Möhring erst an dem Tag sagen, an dem Schnuffeken wieder bei ihr war.
Das Wetter wurde übel. Die Nachrichten auch. Männer wie Volker, die ausgemustert waren, sollten sich zum Volkssturm melden.
Fortsetzung folgt