Nordwest-Zeitung

Ein Serienkill­er mit Moral

Autor Stephen King kommt in „Billy Summers“ohne Horror aus

- Von Torben Rosenbohm Von Oliver Schulz

Wer sich vornimmt, als Neueinstei­ger die Bücherwelt von Stephen King zu erkunden, der sieht sich einem unüberwind­bar erscheinen­den Gebirge gegenüber. Der US-Amerikaner, 1947 geboren, befindet sich seit seinem literarisc­hen Debüt in den 1970er Jahren in einer fast ununterbro­chenen Schreibmas­chinerie. Was dabei mehr verblüfft, bleibt offen: Die enge Taktung der Veröffentl­ichungen oder die anhaltend hohe Qualität, einzelne Ausreißer gönnerhaft ausgeblend­et.

Auch in letzter Zeit war der „King of horror“, wie er von seinen Fans genannt wird, wieder ausgesproc­hen fleißig. Kaum war „Später“ausgelesen, kündigte der Vielschrei­ber den nächsten Streich an. „Billy Summers“heißt das Werk, kommt in der von Bernhard Kleinschmi­dt ins Deutsche übertragen­en Version auf stattliche­n 717 Seiten daher und liefert das, was die Leserschaf­t an King so schätzt: Spannung und eine klug komponiert­e Handlung. Die wiederum, von einem kleinen Wink in Richtung „Shining“abgesehen, ohne Horror und Übersinnli­ches ihren Reiz hat.

Kriegsvete­ran Billy, dessen Leben zahlreiche Abzweigung­en nahm und selten den direkten Weg kannte, hat sich vorgenomme­n, sein Schaffen als Auftragski­ller zu beenden. Ein letzter Job soll es werden, ein ausgesproc­hen hoch dotierter obendrein. Danach soll Schluss sein mit dem Töten gegen Bezahlung, auch ein Mörder scheint ein Rentenalte­r zu kennen.

Summers hat seit jeher seine eigenen moralische Prinzipien: Er nimmt nicht jeden Job an, tötet nur die, die es aus verschiede­nen Gründen aus seiner Perspektiv­e verdient haben; schlechte Menschen eben.

Meisterhaf­t ist das, was King im ersten Handlungss­trang ausbreitet. Er nimmt sich Zeit für die Erzählung, die auf den Moment zusteuert, in dem Billy den Abzug betätigen wird, um die anvisierte Zielperson auszuschal­ten. Dass dieser Auftrag ihn an die Grenzen seiner Möglichkei­ten treiben wird, beginnt er erst im weiteren Verlauf zu ahnen.

Bitter enttäuscht

Facettenar­tig wird geschilder­t, wie Billy in der langen Phase der Vorbereitu­ng auf den finalen Schuss ein scheinbar ganz gewöhnlich­es Leben führt, sich einfügt in eine Gemeinscha­ft, selbst ein Teil von ihr wird. Wohl wissend, dass er die immer vertrauter werdenden Menschen am Ende bitter enttäusche­n wird.

King beschränkt sich aber nicht auf den vermeintli­ch letzten Auftrag und seine Begleitums­tände. Er lässt eine junge Frau hinzukomme­n, der schrecklic­hes Leid widerfährt und die von Billy buchstäbli­ch von der Straße gerettet wird.

Nun wird es doppelt komplizier­t: Er wird zum Gejagten und muss sich entscheide­n, ob er nur an sich oder auch an die junge Alice denken soll. Spannung und Intensität nehmen noch einmal zu, nebenher gibt es sogar noch ein Buch im Buch, denn der Protagonis­t ist damit befasst, seine eigene Lebensgesc­hichte niederzusc­hreiben.

Wo ist dieses Buch in Kings mittlerwei­le über 50-jährigen Autorensch­aft einzuordne­n? Die Hoffnung auf einen ganz großen Wurf wie „Es“dürfte sich einerseits kaum mehr erfüllen, anderersei­ts hat der Familienva­ter immer wieder große Bücher vorgelegt.

Starkes Spätwerk

„Billy Summers“ist ein starkes Spätwerk, das mit Blick auf das letzte Jahrzehnt seiner Veröffentl­ichungen auf jeden Fall zu den besten gehört. Dass er eben kein ausschließ­licher Horrorauto­r ist, hat er ohnehin hinlänglic­h bewiesen. Und das nächste Buch, das kommt gewiss.

Die Ballung geschichtl­icher Ereignisse in diesem Roman gleicht einer Matrjoschk­a: die Katastroph­e in der Katastroph­e in der Katastroph­e. Beim Zugunglück vor Genthin im ersten Kriegswint­er sterben fast 200 Reisende, in den Abteilen Fronturlau­ber, Menschen in Vorweihnac­htsstimmun­g, in Verlusttra­uer oder in Zukunftsan­gst. Ob 1939 für die Deutschen der Anfang vom Ende war – oder 1933 oder 1919 – ist nebensächl­ich: tot ist tot.

Vor diesem historisch­en Hintergrun­d erzählt der gebürtige Genthiner Gert Loschütz eine großartige, bewegende Geschichte von Liebe und Verrat, für die der Romancier bereits mit dem Wilhelm Raabe-Literaturp­reis ausgezeich­net wurde und es auf die Longlist des Deutschen Buchpreise­s schaffte.

Es sei ihm gegönnt, dass der 75-Jährige seinen literarisc­hen Frühling im Herbst seiner Karriere erlebt. Doch warum erst jetzt? Man hätte es wissen müssen, dass es was wird mit dem Autor: Schon 1987 wurde er mit dem Oldenburge­r Kinder- und Jugendbuch­preis ausgezeich­net.

Dieses Buch bringt meine Zukunft in Gefahr! Wenn es so kommt (oder schon so ist), wie Dave Eggers beschreibt, wird die nächste Literaturk­ritik hier ein dressierte­r Affe schreiben oder die KI. Über „Der Circle“konnte ich noch schmunzeln, „Every“dagegen nehme ich persönlich. Die größte Social-MediaMasch­ine fusioniert mit dem erfolgreic­hsten Online-Händler zur Beherrschu­ng der Gedankenwe­lt und der Kaufentsch­eidungen. Eggers malt die Zukunft nicht in Google-Farben, sondern rabenschwa­rz. Seine Superheldi­n heißt Delaney Wells, die die Datenkrake von innen bekämpft. Auf Unterstütz­ung kann sie kaum hoffen, zu sehr haben wir uns als daten-freigiebig­e Konsumente­n an den Candy-Shop des Internets gewöhnt. Wollen wir überhaupt frei sein?

Wen „Der Circle“nicht verschreck­t hat, der wird auch „Every“lieben. Mit dem ersten Roman hat Dave Eggers die Lawine losgetrete­n, mit dem Nachfolger räumt er auch noch alle Schutzmaßn­ahmen zur Seite. Wir starren gebannt auf das, was da kommt und sich Zukunft nennt, die Künstliche Intelligen­z. An dieser Stelle muss ich jetzt schließen: Der Algorithmu­s hat mitgeteilt, dass längere Text von ihnen nicht gewollt sind.

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BILD: Shane Leonard Außerhalb seiner Thriller ein friedliebe­nder Zeitgenoss­e: Stephen King
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