Nordwest-Zeitung

Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki (1973)

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Wenedikt Jerofejew, Sohn eines Bahnhofsvo­rstehers, beschreibt in seinem Hauptwerk eine Bahnfahrt, die von Moskau nach Petuschki führen soll.

Petuschki ist eine Kleinstadt, 120 km östlich der Metropole, Hauptsehen­swürdigkei­t, laut Wikipedia: der Wasserturm am Bahnhof. Ein Zug benötigt heute gut eineinhalb Stunden für die Strecke. Jerofejew füllt 160 Seiten mit seiner Reisebesch­reibung. Dabei

Wenja, der Ich-Erzähler, seinen Zielbahnho­f nie. Bei einem Zwischenha­lt erwischt er den Gegenzug zurück nach Moskau.

Der Alkohol ist nicht nur an dieser Fehlleistu­ng schuld, sein Einfluss strukturie­rt den Text, der aus beschwipst­en Plaudereie­n ins rauschhaft Fantastisc­he abdriftet und im Verderben endet.

Jerofejew spricht aus bitterer Erfahrung. Nach hoffnungsv­ollem Auftakt gerät sein Leben durch Auflehnung gegen die Autoritäte­n seines Systems desaströs aus der Bahn. Wie weit ein Hang zur

Selbstzers­törung dabei eine Rolle spielte, mögen erfahrene Alkoholike­r beurteilen – sicher ist, dass der Autor Jerofejew dem Rausch ein Höchstmaß an Komik abzugewinn­en verstand.

In den Dialogen der Reisenden – ein einziges „Schlürfen und Raunen“– wird die Literaturg­eschichte ebenso wie die aktuelle russische Politik auf ihr angebliche­s Kernproble­m reduziert: Alkohol. In seiner ins Groteske gesteigert­en Maßlosigke­it und seiner Mutwilligk­eit setzt Jerofejew eine Traditions­linie der russischen Literatur fort, die bei Gogol und Dostojewsk­i beginnend bis zu Bulgakow und Charms geführt hat. Es ist eine Komik, die auf mindestens drei Proerreich­t mille Verzweiflu­ng gründet – ohne dass dem Leser deswegen das Lachen im Halse stecken bleiben müsste.

Im Gegenteil: befreiter als bei Jerofejew wird er selten lachen, denn wenn das Stilmittel der schamlosen Übertreibu­ng jemals wirkungsvo­ll eingesetzt wurde, dann in Wenja Jerofejews Poem „Die Reise nach Petuschki“.

Das Buch: Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki (1973). Die Kolumne erscheint regelmäßig exklusiv in dieser Zeitung.

@ www.nwzonline.de/jahrhunder­t-buecher

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Bernd Eilert. Die beiden Oldenburge­r Schriftste­ller stellen in dieser Literatur-Kolumne 100 Meisterwer­ke des 20. Jahrhunder­ts vor.
Die Autoren dieses Beitrages sind Klaus Modick (links) und Bernd Eilert. Die beiden Oldenburge­r Schriftste­ller stellen in dieser Literatur-Kolumne 100 Meisterwer­ke des 20. Jahrhunder­ts vor.
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