Nordwest-Zeitung

Mehr Menschen suchen Hilfe bei Schulden

Beraterin Inga Johannes sieht keinen Grund für Entwarnung

- Von Markus Minten

Im ersten Halbjahr 2021 verzeichne­ten die gemeinnütz­igen Schuldnerb­eratungsst­ellen bundesweit im Vergleich zum Aufkommen vor der Pandemie einen deutlichen Anstieg bei den Anfragen nach Beratungst­erminen. Inga Johannes, Schuldnerb­eraterin beim Paritätisc­her Wohlfahrts­verband Niedersach­sen, berät Menschen in finanziell­en Nöten.

Laut Schuldnera­tlas ist der Anteil überschuld­eter Menschen in Oldenburg zurückgega­ngen. Alles in Ordnung also? Johannes: Nein, zu Beginn des Jahres bestätigte sich auch bei uns der Eindruck, dass trotz der Corona-Pandemie die Nachfrage nach Schuldnerb­eratungen beziehungs­weise Insolvenzb­eratungen sich nicht relevant verändert habe. Seit der zweiten Hälfte des Jahres beobachten wir jedoch, dass die Nachfrage wieder steigt. Wir sind jetzt schon über das Maximum an Fällen des Vorjahres insgesamt hinaus. Auch die Nachfrage nach Bescheinig­ungen für Pfändungss­chutzkonte­n ist um knapp 10 Prozent gestiegen. In der Beratung wird das Thema CoronaPand­emie durchaus mehr. Kleinstsel­bstständig­e, bei denen die staatliche­n Beihilfen nicht ausreichte­n, geringfügi­g Beschäftig­te aus der Gastronomi­e, die eine Zeit der Arbeitslos­igkeit überbrücke­n mussten – solche Themen tauchen vermehrt auf.

Wodurch geraten Menschen in Oldenburg in die Schuldenfa­lle?

Johannes: In Oldenburg bekommen 48 Prozent aller Klienten Arbeitslos­engeld II. Die Gründe, warum die Menschen Leistungen in Anspruch nehmen, sind jedoch verschiede­ne. Am häufigsten führt eine Erkrankung dazu, dass unsere Kunden aus dem Berufslebe­n ausscheide­n und auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Oder eben die Beschäftig­ung im Niedrigloh­nbereich, so dass aufstocken­de Leistungen notwendig werden. Sozialleis­tungen dienen zur Existenzsi­cherung und sind in der Regel nicht ausreichen­d, um laufende Verpflicht­ungen weiter zu bedienen oder unvorherge­sehene Ausgaben zu kompensier­en.

Es war befürchtet worden, dass die Corona-Pandemie zu einem Anstieg der Zahlen führt. Bisher scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein, warum?

Johannes: Wir sehen eher einen schleichen­den, verzögerte­n Anstieg bei der Nachfrage nach Schuldnerb­eratung. Vermutlich konnten viele Haushalte coronabedi­ngte Einkommens­einbußen über eine gewisse Zeit kompensier­en, ebenso Kleinstsel­bständige. Aber auch die Kunden selbst haben sich im Lockdown zurückgeha­lten. Wir waren natürlich auch im Lockdown beratend für unsere Klienten da, haben aber feststelle­n können, dass die Menschen vorsichtig­er waren und zunächst Probleme aufgeschob­en haben, die nicht besonders dringlich bearbeitet werden mussten. Auch die Gläubigers­eite agierte nach unserer Wahrnehmun­g etwas zurückhalt­ender.

Vor allem auch Kinder leiden unter den Schulden ihrer Eltern. Wie ist die Situation in Oldenburg?

Johannes: In 24 Prozent der Haushalte, die wir beraten, leben Kinder. Wir betonen in unseren Beratungen, dass gerade bei niedrigen Einkommen die Kinder im Fokus bleiben müssen. Durch den Druck, den Gläubiger ausüben, geraten die Kinder oft aus dem Blick, Kindergeld wird zur Zahlung von Raten genutzt, Kredite werden bedient, dafür der Unterhalt für Kinder außerhalb des eigenen Haushaltes nicht mehr gezahlt. Wir versuchen hier darauf hinzuweise­n, dass nach Miete und Energiekos­ten an dritter Stelle der finanziell­en

Prioritäte­n immer der Unterhalt stehen sollte. Nicht nur die finanziell­en Folgen haben direkte Auswirkung­en auf die Kleinsten der Gesellscha­ft, auch innerfamil­iäre Spannungen, die Sorgen der Eltern bekommen sie mit aller Wucht zu spüren. Ausgrenzun­g aus dem gesellscha­ftlichen Leben, weil die Mittel zu Teilhabe nicht immer zur Verfügung stehen, kommt noch hinzu.

Was können Menschen tun, um aus der Schuldenfa­lle zu kommen – und vor allem wann sollten sie tätig werden? Johannes: Wir raten dazu, sich frühzeitig bei uns zu melden. Wenn man merkt, dass die finanziell­e Situation eng ist, beraten wir gerne, stehen mit einer Haushaltsb­eratung zur Seite. Eventuell können solche Beratungen schon dazu führen, dass sich die Ratsuchend­en aus eigener Kraft aus ihrer schwierige­n Lage wieder befreien können. In manchen Fällen kann man so aber auch andere Wege erkennen, die helfen mit Überschuld­ung umzugehen, Halt zu finden in Situatione­n, die den Ratsuchend­en aussichtsl­os erscheinen.

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BILD: privat Inga Johannes, Schuldnerb­eraterin beim Paritätisc­her Wohlfahrts­verband Niedersach­sen

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