Mehr Menschen suchen Hilfe bei Schulden
Beraterin Inga Johannes sieht keinen Grund für Entwarnung
Im ersten Halbjahr 2021 verzeichneten die gemeinnützigen Schuldnerberatungsstellen bundesweit im Vergleich zum Aufkommen vor der Pandemie einen deutlichen Anstieg bei den Anfragen nach Beratungsterminen. Inga Johannes, Schuldnerberaterin beim Paritätischer Wohlfahrtsverband Niedersachsen, berät Menschen in finanziellen Nöten.
Laut Schuldneratlas ist der Anteil überschuldeter Menschen in Oldenburg zurückgegangen. Alles in Ordnung also? Johannes: Nein, zu Beginn des Jahres bestätigte sich auch bei uns der Eindruck, dass trotz der Corona-Pandemie die Nachfrage nach Schuldnerberatungen beziehungsweise Insolvenzberatungen sich nicht relevant verändert habe. Seit der zweiten Hälfte des Jahres beobachten wir jedoch, dass die Nachfrage wieder steigt. Wir sind jetzt schon über das Maximum an Fällen des Vorjahres insgesamt hinaus. Auch die Nachfrage nach Bescheinigungen für Pfändungsschutzkonten ist um knapp 10 Prozent gestiegen. In der Beratung wird das Thema CoronaPandemie durchaus mehr. Kleinstselbstständige, bei denen die staatlichen Beihilfen nicht ausreichten, geringfügig Beschäftigte aus der Gastronomie, die eine Zeit der Arbeitslosigkeit überbrücken mussten – solche Themen tauchen vermehrt auf.
Wodurch geraten Menschen in Oldenburg in die Schuldenfalle?
Johannes: In Oldenburg bekommen 48 Prozent aller Klienten Arbeitslosengeld II. Die Gründe, warum die Menschen Leistungen in Anspruch nehmen, sind jedoch verschiedene. Am häufigsten führt eine Erkrankung dazu, dass unsere Kunden aus dem Berufsleben ausscheiden und auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Oder eben die Beschäftigung im Niedriglohnbereich, so dass aufstockende Leistungen notwendig werden. Sozialleistungen dienen zur Existenzsicherung und sind in der Regel nicht ausreichend, um laufende Verpflichtungen weiter zu bedienen oder unvorhergesehene Ausgaben zu kompensieren.
Es war befürchtet worden, dass die Corona-Pandemie zu einem Anstieg der Zahlen führt. Bisher scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein, warum?
Johannes: Wir sehen eher einen schleichenden, verzögerten Anstieg bei der Nachfrage nach Schuldnerberatung. Vermutlich konnten viele Haushalte coronabedingte Einkommenseinbußen über eine gewisse Zeit kompensieren, ebenso Kleinstselbständige. Aber auch die Kunden selbst haben sich im Lockdown zurückgehalten. Wir waren natürlich auch im Lockdown beratend für unsere Klienten da, haben aber feststellen können, dass die Menschen vorsichtiger waren und zunächst Probleme aufgeschoben haben, die nicht besonders dringlich bearbeitet werden mussten. Auch die Gläubigerseite agierte nach unserer Wahrnehmung etwas zurückhaltender.
Vor allem auch Kinder leiden unter den Schulden ihrer Eltern. Wie ist die Situation in Oldenburg?
Johannes: In 24 Prozent der Haushalte, die wir beraten, leben Kinder. Wir betonen in unseren Beratungen, dass gerade bei niedrigen Einkommen die Kinder im Fokus bleiben müssen. Durch den Druck, den Gläubiger ausüben, geraten die Kinder oft aus dem Blick, Kindergeld wird zur Zahlung von Raten genutzt, Kredite werden bedient, dafür der Unterhalt für Kinder außerhalb des eigenen Haushaltes nicht mehr gezahlt. Wir versuchen hier darauf hinzuweisen, dass nach Miete und Energiekosten an dritter Stelle der finanziellen
Prioritäten immer der Unterhalt stehen sollte. Nicht nur die finanziellen Folgen haben direkte Auswirkungen auf die Kleinsten der Gesellschaft, auch innerfamiliäre Spannungen, die Sorgen der Eltern bekommen sie mit aller Wucht zu spüren. Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben, weil die Mittel zu Teilhabe nicht immer zur Verfügung stehen, kommt noch hinzu.
Was können Menschen tun, um aus der Schuldenfalle zu kommen – und vor allem wann sollten sie tätig werden? Johannes: Wir raten dazu, sich frühzeitig bei uns zu melden. Wenn man merkt, dass die finanzielle Situation eng ist, beraten wir gerne, stehen mit einer Haushaltsberatung zur Seite. Eventuell können solche Beratungen schon dazu führen, dass sich die Ratsuchenden aus eigener Kraft aus ihrer schwierigen Lage wieder befreien können. In manchen Fällen kann man so aber auch andere Wege erkennen, die helfen mit Überschuldung umzugehen, Halt zu finden in Situationen, die den Ratsuchenden aussichtslos erscheinen.