Hilfsorganisationen müssen Menschen jetzt versorgen
Alexander Graf Lambsdorff ist Außenpolitik-Experte der Liberalen. Im Interview ordnet er die Merkel-Telefonate mit Belarus-Machthaber Lukaschenko ein und mahnt, sich von Belarus nicht erpressen zu lassen.
Der Bundestag hat über den Flüchtlingsansturm an der polnisch-belarussischen Grenze debattiert. Sehen sie Chancen für eine Entspannung? Lambsdorff: Das, was wir gerade an der polnisch-belarussischen Grenze sehen, ist eine künstliche Krise. Verantwortlich ist allein Herr Lukaschenko. Der Entschluss der EUAußenminister, weitere Sanktionen auf den Weg zu bringen, war daher genau richtig. Aufgabe der EU ist es jetzt, gemeinsam Antworten auf dieses zynische Spiel zu finden und an der Seite Lettlands, Litauens und Polens zu stehen. Entspannung muss es vor allem mit Blick auf die humanitäre Situation geben.
Sollte Deutschland aus humanitären Gründen Flüchtlinge von dort aufnehmen? Lambsdorff: Deutschland und die EU dürfen sich nicht von einem Diktator erpressen lassen. Aber Männer, Frauen und Kinder harren bei Temperaturen um den Gefrierpunkt ohne ausreichend Essen und Trinken, geschweige denn Hygienemöglichkeiten, zwischen Polen und Belarus aus. Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz müssen jetzt uneingeschränkten Zugang zum Grenzgebiet bekommen, um die Menschen zu versorgen. Zudem müssen die europäischen Partner weiter auch den Kontakt zu den Herkunftsländern suchen. Der Irak fliegt bereits erste Migranten wieder
zurück in ihre Heimat. Auf Dauer aber wird man eine solche Situation nur durch eine gemeinsame Asyl- und Außenpolitik in der EU verhindern können. Dem hat sich leider die CDU/CSU über Jahre hinweg verschlossen.
Ist es richtig und gar erfolgversprechend, wenn die Kanzlerin in dieser Lage mit dem Diktator Lukaschenko telefoniert? Lambsdorff: Die Kritik an den Gesprächen zwischen der Kanzlerin und Diktator Lukaschenko ist nachvollziehbar, denn der Machthaber wurde von der EU nach den umstrittenen Wahlen 2020 aus guten Gründen nicht anerkannt. Mit Blick auf die verheerende humanitäre Situation direkt vor unserer Haustür, die durch gefährlich sinkende Temperaturen weiter zu eskalieren droht, haben wir es aber mit einer Ausnahmesituation zu tun, in der außergewöhnliche Mittel erlaubt sein müssen. Wichtig ist, dass die Gespräche nun auch wirklich mit einer konkreten Verbesserung für die Lage der Menschen im Grenzgebiet einhergehen.