Das Leid der „Verschickungskinder“
Über Schikanen und Demütigungen in Erholungsheimen für Kinder wurde Jahrzehnte geschwiegen
Borkum – Sie sollten an der See oder im Gebirge „aufgepäppelt“werden, stattdessen kehrten Tausende verängstigt oder gar traumatisiert aus der Kur zurück. Was genau geschätzte acht bis zwölf Millionen Kinder erlebten, die zwischen 1945 und 1990 meist für sechs Wochen allein in Heime „verschickt“wurden, ist bis heute nicht aufgearbeitet. Nach ihrer Rückkehr haben viele ihren Eltern nichts von den erlittenen Qualen erzählt, anderen wurde nicht geglaubt.
Doch seit 2019 brechen immer mehr frühere Verschickungskinder ihr Schweigen. Rund 5000 von ihnen haben einen standardisierten Fragebogen ausgefüllt, zudem finden sich auf Internet-Plattformen Tausende Erlebnisberichte, die Mehrheit zutiefst erschütternd.
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An diesem Wochenende richtet der Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung (AEKV) einen Kongress auf der NordseeInsel Borkum aus, wo es zeitweise 30 dieser Erholungsanstalten gab. Die Kuren wurden von Kinderärzten verschrieben und in der Regel von der Kranken- oder Rentenversicherung finanziert. In Transporten mit der Bundesbahn wurden Mädchen und Jungen im Alter von 2 bis 12 Jahren in die Kurorte an der Nordsee oder in den Bergen gebracht. Dort waren Eltern-Besuche oder -Anrufe verboten – selbst bei Kleinkindern.
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Kongress
Erinnerungen/Buch
„Das Schlimmste war das Gefühl der absoluten Aussichtslosigkeit“, erinnert sich Sabine Ludwig, die 1964 als Zehnjährige sechs Wochen auf Borkum verbrachte. „Ich war mir sicher, dass ich nie wieder nach Hause zurückkomme. In anderen Heimen wurde man gemästet, wir haben gehungert.“Ihre Erlebnisse verarbeitete die Berliner Autorin 2014 in dem Buch „Schwarze Häuser“für Leserinnen und Leser ab zehn Jahren. Ludwig kann seit ihrem Borkum-Aufenthalt nicht mehr mit mehreren
von teils völlig gesunden Mädchen und Jungen profitierte. Nach Analyse der Historikerin Hilke Lorenz gab es eine „Gesundheitsfürsorgeindustrie, die unabhängig vom medizinischen Nutzen an den Kinderkuren als lukrativem Wirtschaftszweig in strukturschwachen Regionen verdiente“. Lorenz plädiert ebenso für eine umfassende Aufarbeitung. In ihrem Buch „Die Akte Verschickungskinder“schreibt die Historikerin: „Dass Schläge und psychischer Zwang in der Erziehung dieser Zeit üblich waren, entschuldigt nichts.“
hatte die Familienministerkonferenz die Bundesregierung aufgefordert, die Vorkommnisse auf Bundesebene aufzuklären. Jedoch herrscht seit einem ersten Gespräch Anfang dieses Jahres Funkstille. Der Fachaustausch mit Betroffenen-Vertreterinnen und -Vertretern solle möglichst bald fortgesetzt werden, heißt es aus dem Bundesfamilienministerium.