Die unvorhersehbare Welle – oder?
Politik reagiert gehetzt bis ratlos – Wie sich die Welle bereits im Sommer ankündigte
Berlin – Ein schöner Sommer. Deutschland im Juli. Inzidenz sieben. Die Republik liegt am Baggersee, mit Voranmeldung für das nächste Zwei-StundenIntervall auch in den Freibädern – oder fährt in einen hoffentlich sicheren Urlaub. Mal abschalten vom CoronaStress. Das Virus einfach wegklicken, wegschlafen oder mit der Sonnenmilch, Schutzfaktor 30, aufsaugen. Aber so war es dann leider doch nicht.
In diesen November-Tagen, an denen das Robert-KochInstitut (RKI) inzwischen Corona-Neuansteckungen oberhalb von 50000 meldet, reiben sich viele Menschen die Augen. Wie konnte Deutschland nur in diese vierte Welle schlittern? Warum hat uns niemand gewarnt? Diese Entwicklung hätte man doch vorhersehen müssen!
■ Frühjahr
Die Bundeskanzlerin, mittlerweile noch geschäftsführend im Amt, hatte früh im Jahr versprochen, es werde bis spätestens Herbst für jede und jeden ein Impfangebot geben, der dies wolle. Natürlich hatte Angela Merkel dabei auch die Bundestagswahl im Blick, bei der sie selbst zwar nicht mehr kandidierte, aber sie ahnte: Für Demokratie und Wahlbeteiligung ist es nicht förderlich, wenn sich das Land mit hohen Infiziertenzahlen in Richtung Wahltag schleppt und knapp vor einem Lockdown steht. Schuld daran ist im Zweifel die Regierung mit Merkel an der Spitze.
■ Sommer
Trotzdem erstaunt, dass diese vierte Corona-Welle Deutschland nun regelrecht überrollt, als hätte es Welle eins, Welle zwei, Welle drei nie gegeben. Scheinbar wie aus dem Nichts. Dabei wähnte sich die (halbwegs) geimpfte Republik noch bis Mitte Oktober irgendwie in Sicherheit. Einige Mahner aus dem Lager der Virologen, der Intensivmediziner, der Krankenhausund Hausärzte, auch aus der Politik, die gab es. Doch sie wurden in den schönen Sommertagen nicht gehört. Das Virus war nah – und gefühlt weit weg. In der Freiluftsaison ist die Wirkung der Aerosole, die das Virus transportieren, schwächer als im kühlen Herbst und im kalten Winter. Nun geben sich viele überrascht: Wie konnte sich diese vierte Welle nur aufbauen, wo inzwischen knapp 68 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind? Doch 68 Prozent reichen nicht aus für die Herdenimmunität.
■ Herbst
Jetzt muss es wieder schnell gehen. Bundestag, Ministerpräsidentenkonferenz, Bundesrat. 3G, 2G, 2G Plus. Oder 1G – alle getestet, egal, ob geimpft oder nicht. Dabei darf man vermuten: Wird nicht kontrolliert, wird aus 2G schnell ein 0G. Null. Keine Kontrolle, keine Konsequenz, keine Wirkung. Es wirkt dabei absurd, dass die potenziellen Partner der Ampel-Parteien es tatsächlich riskieren, die „epidemische Notlage nationaler Tragweite“auslaufen zu lassen, während im Land nie gekannte Infiziertenzahlen grassieren. In manchen Regionen in Bayern, Thüringen und Sachsen sind Intensivstationen bereits so nah am Corona-Limit, dass die Krankenhäuser dort bereits Patienten abweisen müssen.
■ ausblick
Dabei sagt der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn am Freitag voraus, dass der Höhepunkt dieser Corona-Welle noch längst nicht erreicht ist. „Wir sind ja nicht am Peak.“Der CDU-Politiker räumt auch ein, er hätte im Sommer „früher und deutlicher hinweisen müssen, was sich entwickeln kann, was bei welcher Impfquote kommen kann“. Spahn beschreibt das Problem dieser vierten Welle: „15 Millionen ungeimpfte Erwachsene sind der größte Teil unseres Problems.“
Wann die vierte Welle abebbt? „Am Ende des Tages liegt es an uns“, sagt Spahn. Alle sollen die Botschaft verstehen: die Geimpften – und vor allem die Ungeimpften.