WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN
165. Fortsetzung
Damit Birgit die geliebte Kindersendung sehen konnte, die jeden Abend zehn Minuten lang vom Deutschen Fernsehfunk ausgestrahlt wurde, hatte Kelmi ihnen letztes Jahr einen Fernseher in die Wohnung gestellt.
,,Sandmännchen“, empörte sich Georg, ,,ich bin doch kein Baby mehr.“
,,Da dein Cousin kein Baby mehr ist, kann er heute ruhig ein bisschen später nach Hause kommen“, sagte Kelmi zu Birgit.
,,Also einverstanden. Wenn ihr zwei Hübschen uns zwei Hübschen so nett einladet, bleiben wir zu einem Fußboden-Picknick beim Sandmännchen.“
Birgit kicherte. ,,Du bist ja ein Quatschkopf, Papa. Männer sind doch nicht hübsch.“
In der Boxhagener Straße wollte Birgit absteigen, und Georg entdeckte nun wohl doch Spaß an der Exotik des Abenteuers. Hand in Hand rannten die Kinder voraus.
Kelmi legte den Arm um Sanne. ,,Es ist so schön, sie zu haben. Ich hätte gern noch eines. Oder noch sieben.“
,,Du weißt, dass das nicht geht.“
,,Nein, weiß ich nicht. Ich habe nachgedacht, Susu. Ich bin vierunddreißig Jahre alt, ich habe mein Junggesellendasein lange genug genossen, und ich will nicht die schönsten Jahre mit meiner Familie versäumen. Immer ein Ende machen müssen, wenn der Abendgruß vorbei ist. Ich will Liebe ohne Ende mit euch. Frühstück im Bett. Die erste Hälfte der Nacht mit Ich packe meinen Koffer und die zweite mit schönen Schmutzigkeiten. Wir haben es gut miteinander, wir haben es warm und lebendig und keinen Tag langweilig. Das will ich nicht länger verschenken.“
Es gab keine Versuchung, die so wehtat. Sie wollte ihn unterbrechen, wollte ihm sagen, dass sie sich im Kreis drehten, dass sie das hundertmal diskutiert hatten und nur wieder im Streit enden würden. Er aber zog für die Kinder die schwere Haustür auf und sprach weiter, sobald sie die Treppe hinauf stürmten.
,,Tante Hille, Tante Hille, ich hab Papa und meinen Cousin mitgebracht!“
,,Da es für dich also nicht infrage kommt, zu mir zu ziehen“, sagte Kelmi, ,,bin ich bereit, es andersherum zu versuchen. Wir müssten allerdings nach einer Wohnung suchen, die näher am Susanna liegt, damit ich spätnachts noch problemlos nach Hause komme.“
Sanne hörte alles. Die Angst in seiner Stimme, die Unsicherheit, die gewaltige Anstrengung, die es ihn kostete, diesen Sprung zu wagen – als setze er über eine Mauer hinweg, die er selbst für unüberwindlich gehalten hatte. Sie blieb stehen. Tausend Probleme blitzten wie auf Leuchttafeln in ihrem Hirn auf: Werden wir dann von Westgeld leben, kaufen wir im Westen ein, damit dein Gourmet-Gaumen nicht leidet, was wird mit Tante Hille, was wird Eugen sagen, wie reagiert meine Schule? Aber mit alledem würde sie ihn nicht hier und jetzt überfallen, denn das hatte er nicht verdient. Sie würden dafür Lösungen finden. Kompromisse. Brücken zwischen Ost und West.
War es wirklich sie, die das gedacht hatte?
Kelmi war ihr schon drei Stufen voraus. ,,Komm zurück“, sagte Sanne und streckte die Hand aus, zog ihn zu sich herunter und presste sich an ihn, wie um im Stehen im Hausflur mit ihm Liebe zu machen. Sie stellte sich vor, wie gleich Barbara Zieglers Tür aufgehen würde, und musste kichern wie vorhin Birgit. Es roch nach Feuchtigkeit in den Wänden und zu lange gekochtem Kohl. Früher war ihr das nicht aufgefallen, erst seit sie Kelmis Dachparadies kannte, in dem es nach Thymian, Minze und frisch angebratenem Knoblauch duftete. Er würde es aufgeben, in ihre Kohlwelt ziehen, um mit ihr zu leben. Sie rieb sich an ihm, stöhnte frei von Anstand. ,,Ich liebe dich.“
,,Ist das ein Ja?“Er verdrehte genauso selig die Augen, wie er es tat, wenn er eine zart gegarte Filetspitze probierte. ,,Und du hast auch ganz wirklich verstanden, dass ich dich gerade gefragt habe, ob du Frau Kelm werden willst?“,,Frau Engel-Kelm. Ja.“,,Engel-Kelm ist unwiderstehlich. Ich glaube, ich benenne mich auch um.“
Sie küssten sich. Oben ging eine Tür auf, aber es war nur ihre eigene. ,,Mama und Papa knutschen.“Die Kinder quietschten vor Lachen.
43
Jedes Mal, wenn sie das kleine Mädchen nach einem Tag mit ihrem Vater wieder vor der Tür stehen sah, überfiel Hiltrud eine lächerlich heftige Woge von Erleichterung. Sie litt unter Albträumen, sah des Nachts Kelm, der seine Tochter in den Westen entführte, sie ihnen nicht wiederbrachte, sie für immer wegnahm. Sie selbst hatte damals Kelm in ihr Leben geholt, weil das, was Ilo gesagt hatte, sich nicht beiseiteschieben ließ. Birgit hatte ein Recht auf ihren Vater, sie hatte ein Recht auf alles, was ein Kind brauchte, es sollte ihr an nichts fehlen. Nur nahm das Hiltrud nicht die Angst, die Kleine zu verlieren. Angst, die sie durch jede Sekunde, die sie von Birgit getrennt war, begleitete.
Sie war für Sanne und Birgit auf der Welt. Ilona war im letzten Sommer gestorben. Sie hatte einen Schlaganfall erlitten und kurz darauf einen zweiten, den sie nicht überlebt hatte. Fortsetzung folgt