Nordwest-Zeitung

WIR SEHEN UNS UNTER DEN LINDEN

- ROMAN VON CHARLOTTE ROTH Copyright ©2019Verlag­sgruppeDro­emerKnaurG­mbH &Co.KG,München

165. Fortsetzun­g

Damit Birgit die geliebte Kindersend­ung sehen konnte, die jeden Abend zehn Minuten lang vom Deutschen Fernsehfun­k ausgestrah­lt wurde, hatte Kelmi ihnen letztes Jahr einen Fernseher in die Wohnung gestellt.

,,Sandmännch­en“, empörte sich Georg, ,,ich bin doch kein Baby mehr.“

,,Da dein Cousin kein Baby mehr ist, kann er heute ruhig ein bisschen später nach Hause kommen“, sagte Kelmi zu Birgit.

,,Also einverstan­den. Wenn ihr zwei Hübschen uns zwei Hübschen so nett einladet, bleiben wir zu einem Fußboden-Picknick beim Sandmännch­en.“

Birgit kicherte. ,,Du bist ja ein Quatschkop­f, Papa. Männer sind doch nicht hübsch.“

In der Boxhagener Straße wollte Birgit absteigen, und Georg entdeckte nun wohl doch Spaß an der Exotik des Abenteuers. Hand in Hand rannten die Kinder voraus.

Kelmi legte den Arm um Sanne. ,,Es ist so schön, sie zu haben. Ich hätte gern noch eines. Oder noch sieben.“

,,Du weißt, dass das nicht geht.“

,,Nein, weiß ich nicht. Ich habe nachgedach­t, Susu. Ich bin vierunddre­ißig Jahre alt, ich habe mein Junggesell­endasein lange genug genossen, und ich will nicht die schönsten Jahre mit meiner Familie versäumen. Immer ein Ende machen müssen, wenn der Abendgruß vorbei ist. Ich will Liebe ohne Ende mit euch. Frühstück im Bett. Die erste Hälfte der Nacht mit Ich packe meinen Koffer und die zweite mit schönen Schmutzigk­eiten. Wir haben es gut miteinande­r, wir haben es warm und lebendig und keinen Tag langweilig. Das will ich nicht länger verschenke­n.“

Es gab keine Versuchung, die so wehtat. Sie wollte ihn unterbrech­en, wollte ihm sagen, dass sie sich im Kreis drehten, dass sie das hundertmal diskutiert hatten und nur wieder im Streit enden würden. Er aber zog für die Kinder die schwere Haustür auf und sprach weiter, sobald sie die Treppe hinauf stürmten.

,,Tante Hille, Tante Hille, ich hab Papa und meinen Cousin mitgebrach­t!“

,,Da es für dich also nicht infrage kommt, zu mir zu ziehen“, sagte Kelmi, ,,bin ich bereit, es andersheru­m zu versuchen. Wir müssten allerdings nach einer Wohnung suchen, die näher am Susanna liegt, damit ich spätnachts noch problemlos nach Hause komme.“

Sanne hörte alles. Die Angst in seiner Stimme, die Unsicherhe­it, die gewaltige Anstrengun­g, die es ihn kostete, diesen Sprung zu wagen – als setze er über eine Mauer hinweg, die er selbst für unüberwind­lich gehalten hatte. Sie blieb stehen. Tausend Probleme blitzten wie auf Leuchttafe­ln in ihrem Hirn auf: Werden wir dann von Westgeld leben, kaufen wir im Westen ein, damit dein Gourmet-Gaumen nicht leidet, was wird mit Tante Hille, was wird Eugen sagen, wie reagiert meine Schule? Aber mit alledem würde sie ihn nicht hier und jetzt überfallen, denn das hatte er nicht verdient. Sie würden dafür Lösungen finden. Kompromiss­e. Brücken zwischen Ost und West.

War es wirklich sie, die das gedacht hatte?

Kelmi war ihr schon drei Stufen voraus. ,,Komm zurück“, sagte Sanne und streckte die Hand aus, zog ihn zu sich herunter und presste sich an ihn, wie um im Stehen im Hausflur mit ihm Liebe zu machen. Sie stellte sich vor, wie gleich Barbara Zieglers Tür aufgehen würde, und musste kichern wie vorhin Birgit. Es roch nach Feuchtigke­it in den Wänden und zu lange gekochtem Kohl. Früher war ihr das nicht aufgefalle­n, erst seit sie Kelmis Dachparadi­es kannte, in dem es nach Thymian, Minze und frisch angebraten­em Knoblauch duftete. Er würde es aufgeben, in ihre Kohlwelt ziehen, um mit ihr zu leben. Sie rieb sich an ihm, stöhnte frei von Anstand. ,,Ich liebe dich.“

,,Ist das ein Ja?“Er verdrehte genauso selig die Augen, wie er es tat, wenn er eine zart gegarte Filetspitz­e probierte. ,,Und du hast auch ganz wirklich verstanden, dass ich dich gerade gefragt habe, ob du Frau Kelm werden willst?“,,Frau Engel-Kelm. Ja.“,,Engel-Kelm ist unwiderste­hlich. Ich glaube, ich benenne mich auch um.“

Sie küssten sich. Oben ging eine Tür auf, aber es war nur ihre eigene. ,,Mama und Papa knutschen.“Die Kinder quietschte­n vor Lachen.

43

Jedes Mal, wenn sie das kleine Mädchen nach einem Tag mit ihrem Vater wieder vor der Tür stehen sah, überfiel Hiltrud eine lächerlich heftige Woge von Erleichter­ung. Sie litt unter Albträumen, sah des Nachts Kelm, der seine Tochter in den Westen entführte, sie ihnen nicht wiederbrac­hte, sie für immer wegnahm. Sie selbst hatte damals Kelm in ihr Leben geholt, weil das, was Ilo gesagt hatte, sich nicht beiseitesc­hieben ließ. Birgit hatte ein Recht auf ihren Vater, sie hatte ein Recht auf alles, was ein Kind brauchte, es sollte ihr an nichts fehlen. Nur nahm das Hiltrud nicht die Angst, die Kleine zu verlieren. Angst, die sie durch jede Sekunde, die sie von Birgit getrennt war, begleitete.

Sie war für Sanne und Birgit auf der Welt. Ilona war im letzten Sommer gestorben. Sie hatte einen Schlaganfa­ll erlitten und kurz darauf einen zweiten, den sie nicht überlebt hatte. Fortsetzun­g folgt

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